Geschichten:Blutiger Ernst - Sankt Parinor

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Treppenstufen vor dem Stifttempel des Heiligen Parinors in Sankt Parinor, 4. Ingerimm 1035 BF

Vor dem Stifttempel des Heiligen aller Apotheker hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Die nervöse Unruhe der letzten Tage hatte alle Sinne geschärft für jedes ungewöhnliche Ereignis. Und für die Handwerker und Freibauern des kleinen Dorfes Sankt Parinor am südlichen Rand des Villenviertels war es ein ungewöhnliches Ereignis, dass zur Mittagsstunde ein prunkvoll gekleideter Adliger die schlichte Granittreppe des unscheinbaren Apothekertempels betrat, wie sie liebevoll den Peraine-Tempel nannten, in dem die Gebeine des Heiligen aufbewahrt wurden, dessen Heiltränke vor gut vierhundert Jahren das Leben vieler Garether bei der Schlacht auf den Blutfeldern gegen die Orken gerettet hatte.

Was die übersichtliche Anzahl von Personen aber noch mehr fesselte, ihnen fast die Sinne raubte, waren die fünf schauderhaften Köpfe, die wie blutige Perlen an einer Schnur von einem Seil zusammengehalten und in die Höhe gestreckt wurden. Auf den Gesichtern war der Moment ihres Todes konserviert, der Augenblick, als ihre Seele gewaltsam aus ihrem Leib gerissen worden war. Unter ihnen die leeren Augen eines entstellten Narbengesichts. Hinter dem Mann, der mit einem feierlichen Blick die Gruppe übersah, stand ein kranker zerlumpter Bettler in dreckigen und stinkenden Lumpen, gestützt von einem schüchternen Mädchen, dem die Menschenmenge, die sich von Augenblick zu Augenblick vergrößerte, unbestimmte Furcht bereitete.

»Das ist doch der entführte Weyringhaus«, rief eine Stimme aus dem Pulk. Sofort setzte ein Wispern und Raunen an.

Der stolze Aristokrat auf der Stufe setzte zu sprechen an: »Hört mich an, Ihr stolzen und freien Bürger der ewigen Kaiserstadt Gareth! Heute habe ich Euch von der Furcht und der Angst befreit, die wie eine lähmende Krankheit in den letzten Tage Eure Luft verpestet und Euch die Luft zum Atmen genommen hat!«

Von überall strömten die Leute herbei. Alte Greise und kleine Kinder, Bettler und reiche Handwerker, gemeine Bauern und Menschen von Stand versammelten sich, weil sich wie ein Lauffeuer die Nachricht durch die Gassen verbreitete: In Sankt Parinor wurde der Feind besiegt. Und begierig hingen die Menschen an den Lippen des Redners, in dessen Augen ein gefährlich loderndes Feuer brannte.

»Ich bin gekommen, weil es an der Zeit war zu handeln und das Heft in die eigene Hand zu nehmen! Mich wollte man wie einen gemeinen Hund, durch schmierige Lügen und falsche Anschuldigungen dazu zwingen dem Feind, unserem Feind, dem Feind aller Freien Lande der Zwölfgöttergläubigen zu dienen! Mich wollte der Erzverräter, dessen Name, zwölfmal verflucht sein soll er sein!, unsere Herzen nicht in Angst zu versetzen vermag, dessen Schicksal in unserer von den Zwölfen geführten Hand liegt, mich wollte Helme Haffax erpressen, als er meine im Wochenbett liegende Gattin entführen und sie in ein finsteres Erdloch werfen ließ! So wie er den Helden von Gareth, den tapferen Erben der Raulsmark, den Stolz und die Tugend des garetischen Adels, so wie er Sigman von Weyringhaus versuchte im Dreck zu meucheln. Aber solange noch freie Menschen unter dem allsehenden Auge Praios schreiten, solange noch freie Menschen den wahren Glauben an die zwölf Geschwister in Alveran in ihrem Herzen brennen spüren, solange noch freie Garether Bürger und Bürgerinnen ihr stolzes Haupt erheben gegen Lüge, Verrat und Verderbnis, solange kann er uns nicht brechen!«

Hochrufe brandeten auf. Die Menschenmenge vor dem kleinen Tempel zählte bereits mehr als hundert Köpfe.

»Wir werden der Finsternis nicht weichen! Solange ich lebe, werde ich, Parinor von Borstenfeld, einer von Euch sein!«

Der Lärm schwoll an, die Angst und die Sorge der letzten Tage wich einem euphorischen Taumel, der sich wie ein breiter Strom begann auszubreiten. Die Menschen fielen sich in die Arme, vergossen ehrliche Tränen und schrien in den Mittagshimmel: »Parinor! Parinor! Parinor!« Und dann setzte sich der Triumphzug sich in Bewegung. Er strebte dem Herzen der Stadt zu, alle sollten die freudige Nachricht erfahren. Alle sollten erfahren, dass Parinor ein Ende gemacht hatte mit der Angst. Dass Parinor der Kaiserstadt Gareth ihr Leben zurückgebracht hatte.

Bereits im Villenviertel, das sie als erstes durchquerten, schlossen sich weitere hundert Menschen an, die von den Neuigkeiten erfahren hatten. Auf ihren starken Armen trugen die Männer und Frauen Gareths den winkenden Parinor, trugen voller Begeisterung vor sich her die Köpfe der verhassten Feinde wie die Beute eines erfolgreichen Feldzuges, trugen voller Fürsorge die beiden geschwächten Opfer des widerlichen Verbrechens. In der Weststadt hatte die Menge sich bereits auf über Tausend Menschen vergrößert, und noch immer strömten immer mehr begeisterte und erleichterte Menschen herbei. Auf dem Platz der Zwölfgötter schließlich drängten sich mehrere Tausend Menschen und feierten ein spontanes Freudenfest zu Füßen des zufrieden lächelnden Pfalzgrafen von Bugenhog, dessen Triumphzug nirgends anders hatte beginnen können als in Sankt Parinor.