Geschichten:Blutige Spuren - In Nebelschleiern

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Uslenried, eine gute Stunde zuvor

Schnaubend stapften die beiden Pferde die kleine Anhöhe hinauf, die zum Marktplatz führte. Die Reiter wussten, dass der Tempel irgendwo dort in der Nähe liegen sollte, doch waren sie selbst noch nie dort gewesen. Der in der letzten Stunde aufgekommene Nieselregen machte die ganze Sache auch nicht besser. »Schau mal, eyne Taube«, sagte Tsafried zu seinem Gefährten und deutete auf den graugefiederten Vogel, der über ihre Köpfe hinwegflog.

»Ist das nicht unsere Taube?« fragte Gillian und folgte mit den Augen ihrem Flug.

»Könnte schon seyn«, entgegnete Tsafried.

»Dann sollten wir ihr folgen. So kann sie uns gleich den Weg zum Tempel weisen.«

Sie bogen in eine schmale Gasse ein und kamen schließlich auf eine Nebenstraße. Nach kurzem Suchen erblickten sie die Taube, die im Giebel eines etwa fünfzig Schritt entfernten, an einer Ecke stehenden Hauses auf einer Stange hockte und schließlich durch ein Taubenloch in das Gebäude hüpfte, gleich so, als hätte sie nur auf Tsafried und Gillian gewartet.

Die beiden Phexdiener ritten an das Haus heran. Rechts neben der Tür prangte eine aus Stein gemeißeltes, wagenradgroße rundes Fratze an der Wand, den Mund geöffnet, hinter dem sich ein dunkles Loch erkennen ließ. Dukatenmaul prangte in großen Lettern auf einem Schild über der Tür, und der Geruch, der aus den leicht geöffneten Fenstern auf die Straße hinauszog legte nahe, dass es sich dabei um eine Taverne handeln mochte.

Entschlossen stiegen die beiden Geweihten von ihren Pferden, banden diese an einem in die Wand eingelassenen Haken fest und betraten den Schankraum.

Im Inneren der Taverne roch es nach Eintopf und Gesottenem, und ein verwehender Duft von Pfeifenkraut kitzelte die Nasen. Die beiden Geweihten blickte sich kurz an und schritten geradewegs der Theke entgegen, hinter welcher der Wirt damit beschäftigt war, ein paar Krüge abzureiben.

»Die Zwölfe mit Euch!« grüßten sie den Wirt, als sie an der Theke angelangt waren.

»Auch mit Euch, verehrte Gäste. Was kann ich für Euch tun?«

»Wir sind auf der Suche nach jemandem; nach unserer Schwester, um genau zu sein«, erläuterete Gillian ihr Anliegen, wobei er sich mühte, möglichst leise zu sprechen, ohne gleich allzu geheimnisvoll flüstern zu müssen. »Vielleicht könntet Ihr uns mit ein paar Informationen zu Hilfe sein.«

Der Wirt stellte den Krug auf die Theke und wischte sich die Finger mit dem Lappen ab. »Soso, Ihr sucht Eure Schwester. Ich kenne niemanden, der Euch ähnlich sieht, und so werde ich Euch wohl kaum helfen können. Wie kommt Ihr darauf?«

»Eyne Taube hat uns herjefiehrt«, entgegenete Tsafried, derweil Gillians Blick von etwas anderem abgelenkt wurde.

Eine junge Frau mit schwarzer Lockenmähne kam barfuß die Treppe hinab, bekleidet mit einem alten Mantel aus durchscheinender roter Seide, unter dem sie offensichtlich den sich abzeichnenden weiblichen Proportionen zufolge nichts weiter trug. Mit einem aufreizenden Hüftschwung näherte sie sich Gillian, legte ihren Arm um seine Schulter und näherte sich mit den Lippen seinem Ohr. »Seid Willkommen, mein Bester. Wollt Ihr mir nicht lieber auf einen Becher Wein nach oben folgen?« Sanft biß sie in sein Ohrläppchen. Derart beschäftigt merkte er nicht, wie Tsafried während der Unterhaltung beiläufig mit dem Finger das Phexenszeichen auf die Theke malte, worauf sich die Augen des Wirts fragend hoben, derweil er die Geste wiederholte. Tsafried nickte ihm zu.

Gillian hingegen versuchte die rotgewandete Versuchung abzuwimmeln. »Später vielleicht, doch im Moment habe ich zu tun.«

»Ach wirklich? Wie schade«, säuselte sie, derweil der Wirt sie von dannen winkte.

»Belästige die Herren nicht über gebühr, Aliza. Ich habe mit ihnen ein wichtiges Geschäft zu bereden. Bleib doch bitte einen Augenblick hinter der Theke, ja?« Enttäuscht schlängelte sich Aliza an den beiden Geweihten vorbei, huschte hinter die Theke und füllte einen Becher mit Wein, wobei sie besterbt war, ihre Reize ins rechte Licht zu rücken und eine tiefen Einblick in ihr Dekolletee gewährte.

Der Wirt war derweil hinter der Theke hervorgekommen und winkte die beiden zu sich. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt?«

Gemeinsam stiegen sie die Stufen ins Obergeschoß hinauf. Dort führte er sie in das letzte Zimmer und öffnete in einer Bretterverschalung ein schmale Tür, hinter die eine schmale Stiege hinab in die Tiefe führte. »Folgen wir den Pfaden des Listigen«, sagte er und stieg die Treppe hinunter. Tsafried und Gillian folgten ihm, nachdem letzterer die geheime Tür hinter sich geschlossen hatte; nun blieb ihnen nur noch ein schwacher Lichtschein von unten. Nachdem sie bestimmt mehr denn zwei Stockwerke in die Tiefe gestiegen waren, erreichten sie einen kleinen Keller.

»Willkommen im Vorhof von Phexens Haus. Ich bin Bruder Ulfried. Was kann ich wirklich für Euch tun?« Tsafried und Gillian stellten sich vor und erläuterten ihrem Mitbruder den Grund ihrer Reise. Während des Gesprächs öffnete sich die geheime Tür ein weitere Mal und ein Knabe von vielleicht zehn Jahren brachte ein dünnes Pergament herab. Ulfried nahm das gerollte Papier entgegen, faltete es auf und überflog es.

»Nun, da wart ihr wohl schneller als Eure Taube«, meinte er lächelnd. »Doch mir scheint, wir haben es eilig. Ich werde Euch hinüber zum Tempel führen.« er legte seine Schurze ab und warf sich einen grauen Umhang über. Dann nestelte er einen Schlüssel hervor und öffnete eine Tür im Norden des Raumes. »Bitteschön, hereinspaziert.«

Tsafried und Gillian betraten den Gang, der sich hinter der Tür auftat, Ulfried folgte ihnen und verschloß die Tür von innen.

Im Dämmerlicht einiger Gwen-Petryl-Steine, die an den Wänden in Form der Sternbilder des Zwölfkreises angebracht waren, folgten die drei Geweihten dem etwa dreißig Schritt langen gang, der vor einer weiteren Tür endete. Tsafried schob den Riegel beiseite und öffnete sie. Dahinter versperrte eine dunkler Samtvorhang den Weg. Gillian drängte sich an Tsafried vorbei, schob den Vorhang beiseite und betrat ein prachtvolles unterirdisches Gewölbe – die große heilige Halle des Phex zu Uslenried. Tsafried und Ulfried folgte ihm.

Eine junge Geweihte, gekleidet in ein knielanges dunkelblaues Samtkleid und ein dunkelbraunes ledernes Mieder, das ihre Formen gut zur Geltung brachte, musterte die Neuankömmlinge mit kritischem Blick.

»Das sind Bruder Tsafried und Bruder Gillian aus Gareth«, stellte er die beiden vor. »Und das ist Schwester Yassia. Sie ist eine enge Vertraute von Schwester Sinya«.

Yassia sah ihn fragend an. Ulfried nach sie an die Seite und schilderte ihr mit wenigen Worten, was er wusste. Yassia nickte. »Am besten führst Du sie direkt zu Tameus«, schloß er seinen Bericht. »Ich verschwinde wieder. um diese Zeit sollte ich nicht allzulange fort sein.« Ulfried drehte sich um und schlich durch den geheimen Gang zurück ins Dukatenmaul.

»Folgt mir«, winkte sie die beiden Garether hinter sich und führte sie durch die Halle zu einer edel eingerichteten Stube – die Kammer des Vogtvikars Tameus Roderstein. Jener saß in einem gepolsterten Lehnstuhl und las in einem Buch, welches er flugs beiseite legte, als die drei den Raum betraten. Yassia stellte sie einander vor und ließ Gillian schließlich vom Grund ihres hierseins berichten. Während Gillian sprach – Tsafried ließ es sich nicht nehmen, ihm ab und an ins Wort zu fallen und etwas zu ergänzen – verfinsterte sich die Miene des Vogtvikars, und auch Yassia schluckte mehrfach. »Wir müssen Sinya helfen, soviel steht fest«, sagte Tameus schließlich, »die Frage ist nur wie.« die anderen drei nickten zustimmend.

Währenddessen wurde die Tür der Kammer geöffnet und Jalika, die erst kürzlich Phexens Weihen empfangen hatte, trat ein. »Irgendetwas braut sich zusammen. Es sind königliche Soldaten eingetroffen, und sie reiten geradewegs zur Burg hinauf.« Sie stutzte, als sie die beiden fremden Gesichter erblickte und ihr gleichzeitig bewußt wurde, welche Bestürzung ihre Worte ausgelöst hatte.

»Was geht hier vor?« fragte sie schließlich.

Tameus fing sich als erster. »Sie wollen Schwester Sinya festsetzen«, beantwortete er Jalikas Frage, »und wir sollten es sputen, dies zu verhindern. Es dürfte nur schwierig sein, bei Tag ungesehen in die Burg zu gelangen!« Tsafried und Gillian nickten, während Jalika leise fluchte. Yassia überlegte einen Augenblick. »Es gibt einen Weg«, sagte sie leise, und die übrigen sahen sie fragend an.

»Einen Weg? Was für einen Weg?« fragte Jalika ungestüm, ein Abenteuer witternd.

»Nun ja«, Yassia räusperte sich leise, »es gibt einen geheimen Gang in die Burg, oder besser heraus – einen Fluchttunnel. Sinya hat ihn mir einmal gezeigt, für den Fall, dass ich dieses Wissen irgendwann einmal brauchen würde. Und ich denke, dieser Zeitpunkt ist nun gekommen.«

»Das will ich wohl meinen«, stimme der Vogtvikar ihr zu. Holt Eure Sachen, wir brechen sofort auf.«

»Es ist doch recht, wenn wir Euch begleiten, oder?« fragte Gillian, und Tsafried nickte zustimmend.

»Ich hatte nichts anderes erwartet«, entgegnete Tameus, derweil er sich einen dunklen Kapuzenumhang überwarf und ein ebensolche Barett aufsetzte. Er bedeutete den beiden, vorauszugehen; schließlich hatten sie alles nötige beisich. Tameus selbst schnallte sich sein Rapier um, griff nach einem Seil, dass in einem Regal nahe der Tür lag, und folgte ihnen hinaus in die Halle. Dort trafen sie mit Yassia und Jalika zsammen, die vorausgeeilt waren. Jalika hatte eine grauen Umhang angelegt und ihre blonden Haare unter einem dunkelgrauen Kopftusch verborgen, an ihrer Seite baumelte ein Florett. Yassia trug einen schwarzen Samtumhang mit Kapuze, unter dem die Spitze ihres Rapiers hervorlugte. In der Hand hielt sie zwei Fackeln, die sie an einem der Leuchter entzündete und eine schließlich an Jalika weiterreichte.

»Mir nach« sagte sie, »wir nehmen erst einmal den Gang nach draußen vor die Stadt.«

Der Phextempel Uslenrieds verfügte neben dem Gang ins Dukatenmaul über zwei weitere Geheimgänge. Nachdem die Gefährten durch einen dieser Stollen vor die Stadt gelangt waren, zog Yassia vier Tücher aus dem Gürtel.

»Ich habe Sinya versprochen, niemandem zu verraten, wo sich der Eingang zum Tunnel befindet. Es reicht schon, dass Ihr nun wisst, dass es einen solchen gibt, wenn Ihr es nicht sowieso schon vermutet habt. Daher werde ich Euch jetzt die Augen verbinden.« Die Geweihten nickte verstehend, und Yassia tat, was sie angekündigt hatte. Danach drehte sie einen jeden mehrmals schnell im Kreis, damit sie die Orientierung verloren, legte die Hände ineinander und führte sie durch aufziehenden Nebel und stärker werdenden Regen zu dem geheimen Einstieg. Nachdem sie den Eingang von innen verborgen und die Vier ein Stück weit in den Gang hineingeführt hatte, nahm sie ihnen die Augenbinden wieder ab. »So weit, so gut. Nun müssen wir uns sputen«, sagte sie.

Schnell eilten die Geweihten durch den Gang in die Burg, in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen.