Geschichten:Besuch bei der Großtante
3. Efferd 1048
Bevor sie nach Burg Erlenstamm zurückkehren würde, wollte Baroness Irnfrede noch einen kurzen Abstecher nach Reichsforst machen. Ihr Ziel war aber mitnichten die wohlbekannte Burg ihres Vaters, sondern die mächtige Pfalz Randersburg in der gleichnamigen Reichsvogtei.
Als sie sich zu Pferd der Pfalz näherten, staunte Ernhelm nicht schlecht. "Also das nenne ich mal ne Burg. Alle Achtung. Die ist deutlich größer als Burg Erlenstamm, sogar größer als Burg Trollhammer, würde ich meinen."
"Ist ja auch eine echte Kaiserpfalz. Die sollte auch was hermachen", erklärte Irnfrede ihrem Ritter. "Angeblich hat der Pfalzgraf hier so manches Geheimnis verborgen. Und die Pfalz ist schwer bewacht und bis an die Zähne bewaffnet."
"Hm, vielleicht können wir das ein oder andere in Erlenstamm auch anschaffen. Aber sag mal, was willst du eigentlich beim Pfalzgrafen?"
"Von ihm selber eigentlich gar nichts", entgegnete Irnfrede. "Von seiner Mutter Josline von Eslamsgrund aber schon. Sie konnte im letzten Travia nicht zu meiner Hochzeit kommen, vermutlich aus Altersgründen. Und da habe ich mir überlegt, dass ich ihr mal einen persönlichen Besuch abstatten könnte."
"Sehr zuvorkommend von dir, keine Frage. Aber warum denn ausgerechnet ihr?" fragte Ernhelm.
"Ganz einfach: Sie ist meine Großtante", lächelte sie.
"Ich bin üntröstlich, Euer Hochgeboren von Luring-Hirschfurten, aber leider lässt sich mein Mann entschuldigen, er hat gerade wichtige... äh...Geschäfte zu regeln, und bittet Euch mit mir Vorlieb zu nehmen." Pfalzgräfin Ailyn von Hardt war deutlich anzumerken, dass sie den Umgang mit hochgestellten Persönlichkeiten noch immer nicht gewöhnt war und sich etwas unwohl dabei fühlte. Sie hatte Irnfrede und ihren Begleiter in den Empfangssaal der Pfalz geführt, und sie dort willkommen geheißen.
Irnfrede bemerkte ihre Unsicherheit, und beschloss ihr entgegen zu kommen: "Aber das ist doch überhaupt nicht schlimm, werte Ailyn von Hardt. Im Gegenteil freue ich mich ebenso, mit euch persönlich ins Gespräch kommen zu können. Der Grund meines Besuches ist auch gar nicht Euer Gemahl, sondern vielmehr Eure Schwiegermutter Joseline von Eslamsgrund. Sie ist meine Großtante väterlicherseits, müsst ihr wissen. Ich hoffe, es geht ihr gut?"
Ailyn war sichtlich überrascht. "Oh, Verzeihung. Das war mir gar nicht bekannt. Jaja, alles bestens. Ich werde gleich nach ihr schicken lassen."
"Aber nein, bitte führt mich doch einfach zu ihr. Ich würde gerne mit ihr ein paar Worte wechseln."
"Natürlich. Bitte folgt mir."
Nachdem Ailyn und Irnfrede zur Amtsstube der Seneschallin gegangen waren, klopfte die Pfalzgräfin kurz an.
"Joseline? Seid Ihr da?"
"Ja, bitte?"
Ailyn öffnete die Türe, und sie traten ein. Die ältere Seneschallin und Mutter des Pfalzgrafen saß an ihrem Schreibtisch bei der Korrespondenz.
"Die Baroness Irnfrede von Luring-Hirschfurten ist hier, und würde Euch gerne persönlich sprechen. Ich würde mich dann verabschieden." Damit ließ Ailyn Irnfrede alleine in der Amtsstube, Ernhelm wartete derweil im Empfangssalon.
Die Seneschallin erhob sich, ihre Augen waren nicht mehr sehr gut. "Bitte, tretet doch näher", forderte sie die jüngere auf.
Irnfrede begrüßte sie freundlich, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. "Ich bin sehr froh, dass wir uns endlich mal kennenlernen können, Euer Hochgeboren. Oder darf ich Großtante sagen?" fragte Irnfrede lächelnd.
Joselines Miene erhellte sich. "Aber natürlich. Irnfrede von Luring-Hirschfurten. Ihr seid die Enkelin meiner Schwester Simiona, richtig?"
"Ja, so ist es", bestätigte sie. "Sie starb allerdings lange vor meiner Geburt, so dass ich sie nie kennen lernen konnte. Auch meinen Großvater Radulf habe ich kaum gekannt."
"Bitte kommt noch ein wenig näher", bat sie. Irnfrede tat dies und Joseline betrachtete sie von Nahem. "Kein Zweifel, ihr seid ebenso von Rahja gesgegnet, wie es meine Schwester war. Ihr seht ihr sogar ausgesprochen ähnlich. Einfach wunderschön." "Das... ist sehr freundlich von Euch, Großtante", lächelte sie.
"Es ist die reine Wahrheit, mein Kind. Glaubt mir, von etwa 50 Götterläufen hatte ich auch ein Antlitz, dass die Männer sich reihenweise die Hälse nach mir verrenkten. Ich wette, Euer Gatte konnte sein Glück kaum fassen."
Irnfrede wollte schon gepfeffert antworten, verkniff es sich dann aber doch. "Ja, das ist sicher so", bestätigte sie. "Doch der Grund, weswegen ich hier bin ist, dass ich Euch unbedingt einmal persönlich kennen lernen wollte. Ich hatte ja gehofft, dass Ihr es zu meiner Hochzeit im letzten Travia geschafft hättet, aber so eine weite Reise ist sicher etwas zu viel verlangt."
"Ich bin im letzten Götterlauf nicht zu Eurer Hochzeit nach Burg Trollhammer gekommen, weil ich Eurem Adoptivvater nicht traue", entgegnete sie barsch.
Diese offene Aussage überraschte Irnfrede jetzt doch. "Oh... das hätte ich nicht vermutet. Darf ich fragen..."
"Ja, dürft Ihr. Ihr müsst wissen, dass mein Mann Udilbert der Ältere vor vielen Götterläufen in der alten Baronie Eures Vaters bei einem Jagdunfall zu Tode gekommen ist. Da er sich zu der Zeit bereits die falsche Schlange ins Nest geholt hatte, gehe ich fest davon aus, dass sie hinter Udilberts Tod steckte. Ich will damit nicht sagen, dass Euer Vater selber da mit drinhing, aber zumindest hat er auch nichts dafür getan, die Vorfälle im Anschluss aufzuklären. Offiziell war es wohl ein Jagdunfall. Was wirklich geschah, darüber weiß wohl nur noch er bescheid, seine falsche Gattin weilt ja den Göttern sei Dank ebenfalls nicht mehr unter uns. Zumal auch eine Menge Schulden im Spiel waren, die bis heute nicht getilgt wurden."
Irnfrede war für einen Moment sprachlos und rang nach Fassung. "Da... davon habe ich absolut nichts gewußt, Großtante. Bitte glaubt mir!"
"Natürlich glaube ich Euch, mein Kind. Wie gesagt die Sache ist schon viele Götterläufe her. Ihr wart da noch ein kleines Kind, vielleicht nicht mal auf der Welt. Wie solltet Ihr da Kenntnis davon haben?"
Irnfrede konzentrierte sich auf Joseline, um ihre Gefühle zu erspüren. Sie schien tatsächlich ihr gegenüber nur Güte zu empfinden, gepaart mit der Freude darüber ihre Großnichte endlich einmal näher kennenlernen zu können. Doch tief verborgen in ihr lag großer Kummer. Und jemanden der ihr sehr nahestand, machte sie dafür mitverantwortlich. Es konnte sich nur um Vater handeln. Irnfrede beschloss, ihn bei nächster Gelegenheit mal darauf anzusprechen, was damals in Leihenbutt wirklich geschehen war. Ihre Neugier war geweckt.
Irnfrede lächelte: "Ich hätte eine große Bitte an Euch, Großtante. Könntet Ihr mir von meiner Großmutter erzählen? Wie war sie so als Mensch?"
Und Joseline begann zu erzählen.

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