Geschichten:Berndrich und Lechmin - Unter Trauerweiden

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Baronie Bärenau, Mitte Tsa 1043 BF

Die ungespannte Armbrust in den hirschledernen Fingerhandschuhen und mit bis über die Knie hochgeschlagenen Stulpen stapfte Lechmin von Ibelstein durch den tiefen Schnee hinunter zum Bach. Jeder oberflächliche Beobachter musste die Bärenauer Hausritterin für eine Jägerin auf der Pirsch halten, mit dem Jagdmesser und dem Bolzenköcher an der Seite, sowie der fasanenfedergeschmückten hochgesteckten Krempe am Hut auf dem Kopf. Freilich fehlten die Jagdhunde ebenso wie etwaige andere menschliche Begleiter. Und der Umstand, dass sich die Dame auf ihrem Weg immer wieder nach hinten umsah – fast als fürchte sie etwaige Verfolger – mochte dem Aufmerksamen verraten, dass die Aufmachung nur eine Ablenkung darstellte.

Unter den kahlen Zweigen eines Weidengehölzes hielt sie schließlich an. Ein erster Weidenstamm musste hier schon vor Jahrhunderten vom Alter zerfallen sein, aber seine Wurzeln hatten wieder ausgetrieben und insgesamt acht neue Sprossen waren im Umkreis zu neuen starken Bäumen herangewachsen, die nun einen regelrechten Ring in der Bachaue bildeten. Bisher hatte Lechmin diesen faszinierenden Ort immer in der wärmeren Jahreszeit aufgesucht, wenn die Zweige als ein riesiges grünes Zelt alles in ihrem Inneren vor der Welt draußen abschirmten und darum so manches Geheimnis bergen konnten. Hier hatte sie sich schon vor zwanzig Götterläufen in lauer Sommernacht mit ihrem damals noch zukünftigen Gemahl getroffen, noch bevor sie den Traviabund eingegangen waren. Doch nun kam sie mitten im Winter hierher und stellte fest, dass die herabhängenden kahlen Zweige kaum einen passablen Schutz gegen unliebsame Blicke boten, was ihr angesichts des Anlasses ihres Hierseins sehr zupass gekommen wäre, aber es half nichts. Die kurze verschlüsselte Nachricht in der ihr wohlbekannten ungelenken Handschrift, die sie auf Burg Bärenau erhalten hatte, hatte sie hierher gerufen – und natürlich war sie dem Ruf mit aller gebotenen Vorsicht angesichts der überaus heiklen Situation gefolgt.

Da trat er hinter einem der Stämme hervor und Lechmin erschrak. Ihr Berndrich wirkte auf den ersten Blick erschöpft, geradezu ausgezehrt und seine müde dreinblickenden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Unwillkürlich blieb die Ritterin stehen.

„Ich muss wirklich schlimm aussehen. Aber ich freue mich, dass du gekommen bist, Minchen. Fast hätte ich nicht mehr daran geglaubt“, hub der Katterqueller an und verzog das rotgefrorene von dichten Stoppeln bedeckte Gesicht zu etwas wie einem grimassenhaften schiefen Lächeln, während er die Arme ausstreckte um sie zur Begrüßung zu umarmen.

„Bleib wo du bist!“, zischte sie da und wich abwehrend zurück, wobei sie nach dem Dolch an ihrer Seite griff. Jetzt, da er leibhaftig vor ihr stand und so tat, als wäre nichts geschehen, übermannten sie Zorn und Zweifel. Wie Konnte sie ihm überhaupt noch trauen? Nach dem, was vorgefallen war – und was er ihr offensichtlich verschwiegen hatte und sie erst aus dem Urteilsspruch Graf Odilberts und von dessen Häschern erfahren hatte, als diese Wulfenhag durchsuchten?

Er hielt inne und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht während er stammelte: „Du...du würdest...?“

Lechmin nickte entschlossen und giftete: „Ja, würde ich. Also: Weshalb hast du mich hierher bestellt? Und mach es kurz. Ich habe dem Meier gesagt, wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, soll er Leute mit Hunden ausschicken und nach mir suchen lassen.“

„Minchen, ich...“

„Nenn mich nicht so!“, herrschte sie ihn an.

„Ich...ich wollte nicht...“

„Ach!?“, plötzlich brach sich die über die letzten Wochen und Monde angestaute Wut in ihr Bahn: „Berndrich, du Narr!“, schrie sie, „Was, bei allen Niederhöllen, hast du getan?! Bei den Alriksrittern große Töne von Ehre und Tugend spucken und hinterrücks mit deiner feinen Verwandtschaft losziehen, um Städte zu plündern, Klöster in Brand zu stecken und Bauern abzuschlachten? Schau dich an, was es dir gebracht hat, du Mistkerl! Und hast du auch nur einen Wimpernschlag darüber nachgedacht, was all das nicht nur für dich, sondern auch für mich und unsere Kinder bedeutet? Hättest du nicht einmal deinen hesindegegebenen Verstand vorher gebrauchen können?!“, Lechmin brüllte, schimpfte und zeterte bis sie heiser wurde, und er ließ es über sich ergehen. Als sie schließlich innehielt, um wieder Atem zu schöpfen, der wie eine weiße Wolke über ihnen hing, fragte er schließlich leise: „Was ist mit den Kindern?“

„Zum Glück nichts. Und ich bin heilfroh darum, dass sie außerhalb der Reichweite Hartsteens sind“, antwortete sie heftig anklagend, „Aber du hast mit deinen Taten dafür gesorgt, dass sie sich in ihrer Heimat kaum mehr blicken lassen können!“

„Ich weiß, ich bin ein Idiot“, brachte er schließlich stockend und mit hängenden Schultern hervor, unfähig, ihr ins Gesicht zu sehen. „Ich hätte nicht... Ich finde keine Ruhe und bin am Ende meiner Kraft. Alles zerrinnt mir zwischen den Fingern und ich weiß nicht mehr wohin. Du bist meine letzte Hoffnung.“

„Soso“, auch wenn seine Reue ehrlich wirkte, stieg Bitternis in ihr auf. „Und was ist mit deiner Raubritterfamilie? Warum hältst du dich nicht an die, wie bisher?“

Heftig schüttelte Berndrich den Kopf: „Borfrede und Raulwin folgen blind dieser Noctana. Ich habe da Dinge gesehen...schauderhafte Dinge. Nein!“, als hätte ihn die Erwähnung seiner Verwandtschaft alle Stärke geraubt, sank er vor ihr im Schnee auf die Knie und flüsterte flehend mit brüchiger Stimme, „Ich weiß, ich habe schwer gefehlt und alle enttäuscht, die mir etwas bedeuten, vor allem dich. Und ich wünsche nur noch eins: Wiedergutmachung – und dass du mir eines Tages verzeihen kannst.“

Da traf die Erinnerung Lechmin wie ein Schlag und ihr Zorn verflog gleich dem Rauschen des Windes in den sachte schwingenden Weidenzweigen, während sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. An dieser Stelle hatte er einst ebenfalls auf Knien um ihre Hand angehalten, in jener lauen Sommernacht: „Eines Tages, Berndrich? Erst eines Tages?“, hauchte sie, die Hand vom Dolchgriff nehmend und nach ihm ausstreckend, „Heute noch – wenn du mit mir zurück kommst.“

Er blickte zögernd auf: „Alles würde ich dafür tun, aber das geht nicht. Du weißt es doch selbst genau: Ich bin gebannt, geächtet und vogelfrei. Der Graf droht mit dem Strick.“ „Trotzdem: Du musst dich stellen...“ Pure Verzweiflung lag in seiner Stimme, als er antwortete: „Und an die Gnade Graf Odilberts appellieren? Dann kann ich mich auch gleich hier hinlegen und auf den Kältetod warten.“

Lechmin schüttelte den Kopf, denn ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen: „Appelliere zuerst an die Gnade der Gütigen Herrin. Ich weiß nicht, was sie verlangt. Aber wenn du – wenn wir – eine Chance haben wollen, dann ist das der Weg. Und ich werde dich begleiten, was auch geschehen mag.“

„Das...das würdest du tun...für mich?“

„Natürlich, mein dummer, dummer Trottel.“

Kurz sahen sie sich in die Augen – und dann ergriff Berndrich Lechmins Hand.