Geschichten:Auf wirrenden Pfaden - Am Brunnenrand

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Mhanadistan, Travia 1042 BF

Langsam zog die Landschaft Mhanadistans an den Reisenden vorüber, doch nur Helmbrecht von Steinfelde schien Augen dafür und für die sich im Norden nahenden Gipfel des Raschtulswalls zu haben. Yaira schmollte wieder einmal und zog eine Schnute wie drei Tage Regenwetter. Vasco dagegen stöhnte und jammerte ununterbrochen, doch hatte dies nichts mit seinem Reittier, einem Esel, an sich zu tun, sondern eher damit, dass der Brabaker langes Reiten schlicht nicht gewöhnt war. Das letzte Dorf lag schon einige Meilen hinter ihnen und die Gegend hatte sich mehr und mehr in eine steinig hügelige Einöde verwandelt, die höchstens von Hirten mit ihren Herden durchzogen wurde. Das Zirpen der Zikaden war ständiger Begleiter der drei, während hoch über ihnen unter den immer noch stechenden Strahlen der Praiosscheibe große Vögel ihre Kreise zogen.

Plötzlich schreckte ein ganz anderes Geräusch Helmbrecht aus seinen Betrachtungen.

„Was war das?“, fragte der Ritter wie zur Selbstvergewisserung.

„Da lacht einer – aus vollem Halse...Au“, kommentierte Vasco mit übertrieben schmerzverzerrtem Gesicht und rieb sich sein wundes Hinterteil.

„Hier in dieser Einöde?“, Helmbrecht zog sein Schwert und auch seine beiden Gefährten sahen sich unsicher an. Vorsichtig ritten sie weiter. Hinter einer Biegung fiel ihr Blick dann auf die von einem Ziegen hütenden Jungen am Wegesrand beschriebene Weggabelung mit Brunnen samt Kameltränke. Dort sahen sie zwei bepackte Esel – sowie den Ursprung des Gelächters: ein kleiner dicker Mann, auf dessen Kopf ein riesiger Turban thronte. Eine Pfauenfeder, welche den Kopfputz schmückte, wippte bei jeder Bewegung des Mannes hin und her. Doch am absonderlichsten war, dass dieser just auf dem Rand jener Tränke balancierte. Summend und mit hoch erhobenen Armen stolzierte er wie im Tanz auf der schmalen behauenen Steinkante entlang, wiegte die Hüften und schnippte mit den goldberingten Fingern im Takt. Dann barst erneut ein übermütiges Juchzen aus seiner Kehle.

„He, Mann! Was treibst du da?“, rief Vasco ihn ohne zu Zögern und sehr zu Helmbrechts Verdruss an.

„Ich?“, der seltsame Kauz lachte erneut, „Ich, oh reisender Frager, genieße den Augenblick des Seins!“

Dann zog er tatsächlich ein Bein ein und wedelte wie wild mit den Armen, als wolle er es den Vögeln nachtun und vom Erdboden abheben – ein Wunder, dass er nicht den Halt verlor.

„Das sehe ich. Aber warum?“

„Eben weil. Warum auch nicht? An mir liegt es ja nicht.“

Er kicherte, hüpfte schließlich von seiner erhöhten Position herab, breitete die Arme zu einem die ganze Welt umfangenden Willkommen aus und fragte übermütig: „Spürt ihr es nicht auch?“

„Ja klar, Mann. Aber ich kann es nicht zuordnen“, nickte der Brabaker wie zur Bestätigung und reckte dazu die Nase weit in die Luft. Helmbrecht war klar, dass Vasco keinen Schimmer hatte, aber er selbst konnte sich auf die Worte dieses seltsamen Kauzes auch keinen Reim machen.

„Ihre Anwesenheit“, klatschte der Dicke aufgeregt in die Hände, „IHRE Anwesenheit!“

„Wen meinst du?“, misstrauisch sah sich Helmbrecht um, doch der andere flüsterte nur verschwörerisch: „Die Lusores. L_u_s_o_r_e_s. So nennt der hocherhabene Kadi sie. Ich nenne sie in aller Bescheidenheit lieber ‚Allbestimmer’.“

„Ah. Wir haben davon gehört“, ließ sich auch Yaira vernehmen.

„Habt ihr, ja? Die höchste aller Wahrheiten kann ja auch nicht für immer und ewig verborgen bleiben, sondern sie muss sich zwangsläufig Bahn brechen.“

„Welche Wahrheit genau?“

„Dass wir elenden Derenwürmer alles tun, was und wie es IHR unverbrüchlicher Wille ist.“

„Du meinst also, den Anblick deines seltsamen Tanzes da oben hätten wir nur dem absonderlichen Einfall eines dieser ‚Allbestimmer’ zu verdanken?“, erkundigte sich der Hartsteener Ritter vorsichtig.

„Genauso ist es, oh Sohn des schnellen Begreifens. Und mehr noch: jeder Gedanke und jedes Wort ist IHR Werk. Ich bin mir sicher: Der Alltag ist IHNEN vollkommen gleich; SIE lechzen nach Abwechslung, Spannung, Abenteuer – Geschichten – an denen sie sich und ihresgleichen erfreuen. Der Alltag hingegen bleibt nur ein grauer Schatten, ein Nichts. Doch hier stehen wir nun und ich spüre, dass etwas Besonderes geschieht! SIE sind am Werk – und ich bin ein Teil davon! Ich bin! Aber zu was? Und wozu? Zu größten Heldentaten oder zum bitteren Ende in einem Graben am Wegesrand? Nur eins ist sicher: Es gibt kein Entrinnen!“, theatralisch warf er die Arme in die Luft und ließ einmal mehr sein schräges Kichern hören.

Helmbrecht runzelte die Stirn: „Das hieße also, es gäbe überhaupt keine freie Entscheidung?“

„Nicht für uns – nur für SIE.“

„Dann wären also alle Gesetze und Gerichte auf Deren unnütz?“, hakte der Ritter nach.

„Mitnichten. Sie gereichen IHNEN als Werkzeuge und Fäden für ihr Ziel, ganz wie es ihnen beliebt.“

„Das klingt...einleuchtend. Erzähl doch me...“, wollte Vasco den Mann auffordern, doch Helmbrecht warf schnell dazwischen: „Du sagtest, du kennst den erleuchteten Kadi.“

„Kennen? Das will ich doch meinen.“

„Wo finden wir ihn?“

„Nichts einfacher als das. Folgt diesem Weg“, deutete der Dicke unbestimmt in Richtung Weggabelung, „So die Allbestimmer wollen, werdet ihr euer gelobtes Ziel erreichen, oder eben auch nicht, je nachdem.“

Er zuckte mit den Schultern und redete wie zur Beruhigung weiter: „Doch deshalb macht euch keine Sorgen und selbst wenn, oder wie auch immer, Vehikel der Lusores sind wir alle, wie die tanzenden Holzpuppen an den Fäden der Shabaqqinim...“

Helmbrecht schüttelte missmutig den Kopf über dieses Geschwätz: „Ich denke, wir haben jetzt genug gehört. Gehabt Euch wohl.“

„Halt, wartet! Ich bitte euch, nehmt mich mit!“, fiel der Mann in einen flehenden Tonfall.

„Warum sollten wir?“

„Alles ist besser, als Nichts zu sein.“

Begütigend klopfte ihm Vasco da auf die Schulter: „Eh Mann, klar nehmen wir dich mit. Wie heißt du?“

„Kasim el-Zaghir.“

„Freut mich. Ich bin Vasco. Das ist Yaira und der da ist...“

„Moment mal....“, wollte der Hartsteener einwenden.

„Jajaja“, Vasco wedelte mit der Hand, als wolle er eine aufdringliche Fliege verscheuchen und fuhr an Kasim gewandt fort, „Helmbrecht hat zwar Muskeln und ein großes Schwert, aber eigentlich ist er ganz liebenswürdig. Nur eins rate ich dir aus eigener Erfahrung: Gib ihm niemals – niemals – die Hand.“

Helmbrecht seufzte kopfschüttelnd: „Wunderbar, aber nun los. Wir haben heute noch ein ganzes Stück Weg vor uns.“

„Ja, lasst uns aufbrechen“, urplötzlich kehrte die gute Laune in Kasims Gesicht zurück, während er seine Esel losband, nur um gleich darauf wieder zu verschwinden und einer tiefen Traurigkeit Platz zu machen, „Oh, ich...spüre es...Ich fürchte leider, dass IHR Interesse schwindet.“