Geschichten:Altes Blut - Rallersgrunder Diktat

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Burg Zerbelhelm, Junkertum Zerbelhufen, Baronie Rallerspfort, Travia 1037 BF:

Unerträglich angenehm rann der warme Gewürzwein seine Kehle hinab und die Wärme breitete sich von dort langsam in seinem Körper aus. Er hatte in der Nacht kein Auge zugemacht und war noch des Nachts zum Grabe seines Sohnes gegangen. Fast ein ganzer Monat war vergangen, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen worden war. Niemand soll schuld gewesen sein an dem Tod seines Sohnes und jene, die zu beschuldigen gewesen wären, hatten ihren Tod in den Flammen gefunden oder waren noch immer schwer verletzt.

Für Dorian gab es jedoch noch einen weiteren, dem er die Schuld gab für den Tod seines Sohnes und dieser wandelte ungestraft umher: Raulbrin von Rallerspfort. Wer sonst hätte einen Vorteil daraus ziehen können, wenn nicht er. Dorian war sich sicher, doch waren ihm die Hände gebunden.

Völlig unterkühlt hatte ihn seine Frau am Morgen beim Grabe gefunden. Jetzt war er gefangen in Decken und ertränkte seinen Schmerz in Gewürzwein.

Ein Monat war vergangen und niemand hatte sich darum gekümmert, dass der Mann zur Rechenschaft gezogen wurde, welcher für all das verantwortlich war. Dorian hatte sein Vertrauen in alles, woran er bisher geglaubt hatte verloren. Recht, Ordnung, Sicherheit. Alles war innerhalb weniger Monate verloren gegangen in diesen Landen.

Leise knackte das Feuer im Kamin und Dorian starrte hinein, bis ihm die Augen schmerzten und er nur noch helle Flecken sah, die ihm die Sicht verhüllten. Er erhob sich wankend aus seinem Sessel vor dem Kamin und schlurfte zum Regal, um eine weitere Flasche im Kessel über dem Feuer zu erhitzen. Vor dem Regal stolperte er über eine seiner Decken und stürzte gegen das Regal und riss einen der Böden heraus, sodass Bücher, Becher und Kerzen zu Boden fielen.

„Ist alles in Ordnung euer Wohlgeboren?“, fragte seine Magd Selma, welche ihn gehört hatte und hereingekommen war. „Bei den Göttern! Lasst mich Euch helfen.“

„Ich brauche keine Hilfe!“, fuhr er sie an und scheuchte sie davon. Er rappelte sich auf und griff nach der Flasche. Sie war leer. Wütend warf er sie an die Wand, wo sie zerschellte. Die Trauer übermannte ihn, er sackte in sich zusammen und weinend wickelte er sich in seine Decken ein.

Er erwachte in seinem Bett am nächsten Morgen. Der erste Boron.

Schmerzend bemerkte er eine Brandblase an seiner linken Hand und ein dumpfes Pochen in seinem Kopf. Voller Scham über das, was am vergangenen Mittag geschehen war, erhob er sich und kleidete sich ein; dunkle Farben für einen dunklen Tag. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Haldan von Rallersgrund, welcher ihn vor einigen Tagen aufgesucht hatte. Verhandlungen hatte er es genannt. Tatsächlich war es ein Diktat für den Frieden gewesen. Auch wenn es nicht nötig gewesen war, hatte er ihm die voraussichtlichen Konsequenzen einer Anklage Raulbrins aufgezeigt. Er hatte insofern Recht, als dass eine solche Verhandlung tatsächlich keine Option war. Andererseits war aber auch ein Kampf gegen Raulbrin aussichtslos. Er würde mit den anderen sprechen müssen.

Er kehrte zum Frühstück im Speisesaal der Burg ein, wo ihn bereits ein voller Raum erwartete. Es roch nach frischem Brot und gebratenen Eiern, doch herrschte ansonsten Stille, wie es sich für einen Tag wie heute gehörte. Über den vergangenen Tag hatten sich seine Verbündeten auf Burg Zerbelhelm eingefunden, um seinen Sohn zu ehren und über das weitere gemeinsame Vorgehen abzustimmen. An zusätzlich herangeschafften Bänken saßen eng beieinander Aromir von Trutzen, seine Nichte Celissa von Lihtenhayn, ihre Familien, Firunhardt von Böckelburg, seine Vasallin, Dorians Vasallen und Gruppen von Soldaten und Waffenknechte von den jeweiligen Burgen und Gütern. Insgesamt beinahe achtzig Personen hatten sich eingefunden, um seinem Sohn die Ehre zu erweisen. Ein Schauer der Rührung lief Dorian den Rücken hinunter, als sich einer nach dem anderen erhoben, Kopfbedeckungen abnahmen und die Häupter neigten. Er ging zu seinem Platz, setzte sich und die übrigen folgten seinem Beispiel. Schweigend wurde weiter gespeist. Nachdem das Essen beendet war, verließen alle geschlossen den Saal und folgten in einem langen Zug Dorian zum Grab seines Sohnes.

Was folgte war eine Andacht, geleitet von einem Boron-Geweihten aus Rallerspfort. Ihnen allen stieg die Kälte in die Knochen, als der hagere Mann leise Gebete rezitierte und mit stummen Gesten das Grab des jungen Mannes segnete. Erst als die Andacht beendet war, wurde das Schweigen der Versammelten gebrochen.

Dorian erhob als erstes seine Stimme. „Herrschaften, seid Ihr alle gegrüßt. Junker und Ritter, Soldaten und Knechte, Männer und Frauen, meine Verbündeten. Der Anlass, zu welchem wir uns zusammengefunden haben mag traurig sein, aber mich erfreut die Anwesenheit eines jeden von euch. Sie vermag zwar kaum die Trauer über meinen Verlust zu mindern, doch ehrt Eure Anteilnahme mich, meine Familie und nicht zuletzt Euch. Es zeigt mir, dass es in diesen Landen noch Menschen gibt, die einem beistehen in Zeiten der Not und Geschlossenheit zeigen. Doch bin ich kein Mann der großen Worte, drum lasst uns zurückkehren zur Burg und uns aufwärmen.“ Leise plaudernd zogen alle den Weg zurück zur Burg. Dort angekommen trennten sich die Oberhäupter der Familien von den übrigen, um in Dorians Gemächern zusammenzukommen.

„Meine hohen Herrschaften“, begann Dorian, nachdem jeder einen Becher heißen Gewürzweins bekommen und einen Platz gefunden hatte, „ich danke Euch allen für Euer kommen, denn wie Ihr wisst, ist die Lage angespannt.“ Celissa von Lichtenhayn wollte auch Dorian einen Becher anbieten, doch er winkte nur kurz dankend ab.

Schweigen. Alle schauten sie sich nur einander an. Dann erhob Firunhardt von Böckelburg seine laute Stimme. „Das alles bringt uns doch so nicht weiter. Wir hatten uns vor einiger Zeit zusammengefunden und waren entschlossen, dass die Situation nicht länger tragbar sei. Die Schule, das geforderte Geld als Entschädigung. Pah!“ Er erhob sich von seinem Stuhl. „Was hat sich seitdem geändert, frage ich Euch? Raulbrin hat ein Bündnis mit der Stadt geschlossen, die schon in Vergangenheit für genug Schaden gesorgt hat und Dorians Sohn ist entführt und ermordet worden. Was gibt es da noch zu überlegen? Wenn ich mich wegen Geld gegen meinen Baron erhebe, dann, bei den Göttern, erst recht, wenn der Sohn meines Freundes ermordet wird!“

Leise und vereinzelt raunte ein „Hört, Hört.“ durch die Runde.

„Setz dich bitte wieder, Firunhardt.“, sagte Aromir ruhig, aber bestimmend. Dieser schaute noch einmal in die Runde und setzte sich. „Die Sache ist, wie wir alle wissen, doch so: Seit dem schrecklichen, noch ungeklärten Vorfall während der Feiertage“, er schaute kurz zu Firunhardt rüber, um diesen zum Schweigen zu bringen, bevor er anfing zu widersprechen, „haben wir nichts mehr von Raulbrin oder seinen Forderungen gehört. Möglicherweise beharrt er noch immer darauf, doch wissen wir das nicht. Auch er hat einen schweren Verlust erlitten.“

„Das kannst du gar nicht vergleichen. Sein Schwiegervater war zur falschen Zeit am falschen Ort, doch war in all das verwickelt, was Nardes schließlich umgebracht hat. Nardes hatte keine Wahl. Er wurde entführt!“, warf Aldessia von Wystern in den Raum und erhielt zustimmendes Nicken von Firunhardt.

„Richtig. Ganz genau so ist es! Das Maß ist voll, sage ich!“

„Nun gut!“, Dorian, der vorerst genug gehört hatte, schaute in die Runde, jedem einzelnen in die Augen und fragte: „Dann frage ich Euch alle das Folgende: Wer von Euch ist ernsthaft bereit, gegen Raulbrin ins Feld zu ziehen? Dieser trete nun bitte vor.“

Wuchtig erhob sich Firunhardt und Aldessia gleich nach ihm. Schelentorff blickte zur Seite zu Dorian und blieb wie er sitzen.

Zu zweit standen die beiden im Kreis und schauten sich verwundert um, ließen jedoch keine Verunsicherung erkennen.

„Nicht einmal du, Dorian?“, fragte Firunhardt vollkommen erstaunt und auch den übrigen sah man die Verwunderung an.

„Nein, nicht einmal ich.“

„Warum nicht?“

„Was erhoffst du dir von deinem Kampf gegen Raulbrin? Ich weiß, dass du nicht in Gold schwimmst, welches du verprassen könntest.“

„Du aber kannst es dir leisten! Es geht um deinen Sohn!“

„Nardes wird tot bleiben, egal was ich tue. Kein Mann sollte seinen Sohn zu Grabe tragen müssen und darum möchte ich das anderen Männern ersparen. Mir liegt nichts mehr an diesem Kampf. Es ging mir um nicht gerechtfertigte Forderungen und ich war verblendet und wusste nicht was wirklich zählt.“

„Ach ja? Was soll das sein?“

„Frieden in der Baronie. In der Heimat.“

„Und den Mord an deinem Sohn möchtest du ungestraft lassen? Was hat das mit Ordnung und Frieden zu tun?“

„Ich habe gesagt, dass ich gegen einen Kampf bin. Ich fordere, dass wir uns gemeinsam für eine ordnungsgemäße Untersuchung des Vorfalls kümmern. Es muss kein Gericht sein, dass über den Vorfall entscheidet, doch eine Untersuchung, die neutral begutachtet und deren Urteil sich alle Beteiligten beugen. Wir alle gemeinsam stellen ein Ultimatum an Raulbrin. Binnen zwei Wochen soll er uns seine Entscheidung zukommen lassen.“

„Sonst was?“, fragte nun Aromir, welcher ebenfalls sitzen geblieben war.

„Ein Baron, der sich nicht milden Forderungen beugt, um für Frieden zu sorgen, soll nicht der meine sein.“

„Wenn er also die Frist verstreichen lässt, willst du handeln?“, fragte Celissa mit besorgtem Unterton und einem Seitenblick zu ihrem Onkel, welcher auch nicht glücklich wirkte mit dem Geforderten.

„Nein“, dachte er. Unter keinen Umständen durfte jemand Widerstand leisten; davon hatte ihm Haldan eindringlich abgeraten. Auch Dorian wusste, dass der erste, der Widerstand leisten würde, den Frühling nicht erleben würde. Der Frieden musste gewahrt werden, doch er gab Firunhardt was er hören wollte: „So ist es. Untersuchung oder Widerstand bis er nachgibt. Das ist meine Forderung.“ Mit diesen Worten erhob er sich vom Stuhl und blickte sich um, während einer nach dem anderen sich erhob und den Kreis schloss.

Hoffentlich hielt Haldan was er versprach. Raulbrin musste nun einwilligen, sonst würde es doch noch Blutvergießen geben.