Geschichten:Bericht eines Jägers über den Düstertann

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Erzählt von Jonnek, ehemals Jäger in Grodanswacht

Schrein Düstertann.jpg

Ich habe viele Winter überlebt. Harte, nasse, kalte. Ich habe Wild aufgespürt, das sich tief vergrub, ich habe in Schneestürmen Fährten gelesen, wo andere nur Weiß sahen. Aber nichts, nichts hat mich so an den Rand der Verzweiflung gebracht wie der letzte Winter. Die Tiere blieben aus, der Schnee fiel schon früh, und der Frost kam wie ein Fluch über das Land. Meine Familie hatte kaum noch etwas zu essen. Die Vorräte waren knapp, das Wild wie vom Erdboden verschluckt. Und so fasste ich einen Entschluss, den ich mir selbst nie verziehen habe: Ich würde im Düstertann jagen. Trotz allem. Trotz der alten Geschichten, der Warnungen, der Mahnungen an den Wegschreinen, die den Tann wie ein Banngreis umkreisen. Ein letzter Versuch, bevor wir verhungerten.

Es war früh am Morgen, aber die Sonne kam kaum durch die dichte Wolkendecke. Schnee lag so tief, dass meine Spuren knirschten wie das Brechen alter Knochen. Ich nahm den alten Pfad am Bosparanienhain vorbei, betete stumm vor dem Schrein des Garafan – und trat über die unsichtbare Schwelle in den Düstertann.

Der Wald war still. Nicht wie andere Wälder, in denen Schnee alles dämpft – sondern wirklich still. Keine Vögel, kein Rascheln, kein Laut, nur das Beben meines eigenen Atems in der kalten Luft. Die Bäume standen wie dunkle Säulen, ihre Äste schwer von gefrorenem Grau. Und obwohl es Tag war, wurde es mit jedem Schritt dunkler. Ich fand keine Fährte. Keine Spur. Nichts. Der Wald war leer – oder tot. Und doch spürte ich: Ich war nicht allein.

Zuerst war es nur ein Gefühl. Dann ein Knacken, weit hinter mir. Ich hielt inne, drehte mich nicht sofort um. Mein Atem ging schnell. Als ich mich schließlich langsam wandte, stand er da: ein Bär. Riesig. Dunkel. Unwirklich. Und falsch.

Sein Fell war zottelig, doch durchzogen von Flechten und Nadeln, als sei er Teil des Waldes selbst. Seine Augen – leer, ohne Seele, aber wissend. Und seine Klauen… sie waren verholzt. Dicke, verzweigte Krallen wie Wurzelwerk, das sich durch Fleisch schneiden konnte wie ein heißes Messer durch Butter. Er schnüffelte in meine Richtung. Ich hob meinen Bogen nicht. Ich wusste: Wenn ich zog, würde ich hier sterben – nicht durch den Biss des Tieres, sondern durch den Zorn des Waldes.

Der Bär bäumte sich auf, riss sein Maul auf und brüllte, als ob er alle verfluchten Kreaturen des Waldes zu sich rufen würde. Ich wich langsam zurück. Er drehte sich langsam, stapfte dann tiefer in den Wald und verschwand hinter einem Hang aus schief gewachsenen Tannen. Erst da spürte ich, dass ich weinte. Nicht aus Angst, sondern weil ich das Gefühl hatte, etwas gesehen zu haben, das nicht für Menschenaugen bestimmt ist. Ich verließ den Wald noch am selben Tag. Habe ihn seitdem nie wieder betreten. Und ich bete zu Praios und den Sieben, dass meine Kinder es auch nie tun werden.

Der Düstertann will uns nicht. Und wer ihn trotzdem stört, wird vielleicht nicht wiederkommen. Oder schlimmer – er kommt zurück, aber etwas anderes ist mit ihm heimgekehrt.