Geschichten:Die Brut der Geißel - Teil 5
Der Kerker roch nach feuchtem Stein und altem Schweiß. Tropfen fielen von der Decke, jeder Schlag hallte wie ein Taktmesser der Angst. Gilia spuckte Blut aus und tastete vorsichtig ihre Rippe ab – der Schmerz ließ sie vermuten, dass sie gebrochen war. Um sie herum lagen die anderen: Mora hatte es ziemlich übel erwischt. Sie war von einem Streitkolben am Kopf erwischt worden. Ein Medicus der Angreifer hatte sich um die Wunde gekümmert, aber es stand zu befürchten, dass sie es möglicherweise dennoch nicht schaffen würde. Bogumil und Connar waren kaum verletzt, was Gilia in Bogumils Fall nicht wunderte. Er gab sich zwar auf ihren Raubzügen großspurig, aber wenn es hart auf hart kommen würde, würde sie sich nicht auf ihn verlassen. Gilia würde sich nicht wundern, wenn Bogumil als Erster die Waffen vor den Angreifern gestreckt hatte. Jetzt kauerte er hier mit zitternden Händen. Connar hingegen saß schweigsam, doch wachsam, seine Augen dunkel und unergründlich im Dämmerlicht des Kerkers. Fenia und Korgard, Halwarts Bankert, waren ebenfalls hier mit eingesperrt. Beide nur leicht verletzt.
Der Angriff mitten in diesem Wintersturm hatte die Gnisterholmer Burgbesatzung auf dem Finsterstein überrascht. Sie waren schnell und präzise überwältigt worden. Eine Gegenwehr nahezu unmöglich. „Weiß einer von euch, was mit Volkhardt geschehen ist?“ fragte Fenia leise in die Runde. Gilia verdrehte innerlich die Augen. „Er ist tot! Hat sich diesem verfluchtem Schwingenfelser in den Weg gestellt.“ Bogumil sog hörbar die Luft ein: „Das ist übel!“ Gilia lachte verächtlich auf. „Das ist nicht nur übel, sondern dämlich! Volkhardt hätte aufgeben sollen, als er die Möglichkeit dazu hatte.“ Fenia schüttelte den Kopf. „Einfach aufgeben? Was sind denn das für Anstalten, Gilia?“ fragte sie. Gilia funkelte sie böse an. „Man muss wissen, wann man kämpfen sollte und wann nicht!“ sprach sie tonlos. „Und sich diesem Schwingenfelser Hundsfott entgegen zu stellen, halte ich nicht für den Kampf, welchen ich zu später Stunde ausfechten möchte.“
Connar am anderen Ende des Raumes nickte stumm. Er schaute sich um. „Und was machen wir jetzt?“ fragte er in die Runde. Fenia erhob sich. Für sie war Halwart nicht nur Anführer, sondern der letzte Halt. „Sie haben Halwart gefangen gesetzt. Vielleicht könnten wir uns hier befreien. Ich habe da eine Idee, wie das klappt.“ Sie schaute zu Bogumil. „Du musst ganz laut und jämmerlich aufschreien und tust so, als wenn du Schmerzen im Bauch hast.“ erläuterte sie. „Wenn wir es schaffen, uns zur Waffenkammer durchzuschlagen, dann könnten wir Halwart aus seinem Quartier befreien.“
Gilia erhob sich ebenfalls. Mit ihrer lädierten Rippe fiel ihr dies zwar schwer, aber sie stand nun. „Wenn wir Halwart befreien, wird das die Schwingenfelser auf den Plan rufen!“ sprach sie energisch. Fenia schnaubte. „Was schwebt Dir denn sonst vor?“ fragte sie lauernd. Gilia schaute sich um und überlegte kurz. „Die Idee mit Bogumil ist gar nicht so dumm. Doch sobald wir die Waffenkammer erreicht haben, sollten wir uns alles packen, was wir kriegen können und dann verschwinden.“ Bogumil klatschte in die Hände. „Jawohl!“ rief er lautstark. Gilia und Fenia blickten ihn zeitgleich so an, als habe er den Verstand verloren. Bogumils Begeisterung schwand sofort und Fenia wandte sich wieder Gilia zu: „Und wie willst Du verschwinden?“ „Auf dem gleichen Weg auf dem die Schwingenfelser hier reingekommen sind!“
Connar nickte. „Ein kühner Plan, aber gut!“ brummte er. Gilia konnte sehen, dass auch Fenia über den Plan nachdachte. Es war jedoch Korgard, welche Protest äußerte: „Ihr wollt euch feige davon machen? So dankt ihr eurem Anführer?“ Fenia und Gilia schauten sich erneut an. Gilia trat zu dem Mädchen. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist, aber dein Vater hat verloren! Er hat sich die Schwingenfelser zum Feind gemacht. Diesen Kampf soll er mal schön alleine ausfechten! Wenn du magst, kannst du mit uns kommen! Doch stell dich uns jetzt nicht in den Weg!“ Sie blickte ihr in die Augen. „Verstanden?“ fragte sie. Korgard reagierte nicht. „Ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt!“ setzte Gilia energisch nach. Korgard nickte. Ihr Lippen bebten dabei zwischen Trotz und Angst.
Das Geschrei Bogumils hallte durch den Kerker, ein jämmerliches Winseln, das selbst die Tropfen von der Decke übertönte. Der junge Wächter zögerte, sein Blick schwankte zwischen der Tür und dem dunklen Gang, der zum Medicus führte. Fenia drängte: „Sieh doch selbst nach, bevor du den Heiler weckst!“ Ihre Stimme schmeichelte, doch Gilia spürte, wie das Zittern in ihren eigenen Rippen stärker wurde. Es war eine der ältesten Finten der Welt und doch schien ihnen Phex hold. Der Trick war nicht bis zu der jungen Wache vorgedrungen.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Ein Spalt öffnete sich, und in diesem Augenblick packten sie zu. Connar riss den Burschen zu Boden, Bogumil stolperte hinterher, und Fenia hatte schon das Kurzschwert in der Hand. Ihre Augen glühten, als sie die Klinge hob.
„Wir müssen ihn töten!“ zischte sie.
Gilia trat dazwischen, ihre Stimme schneidend wie Stahl: „Nein.“
Fenia starrte sie an, ungläubig. „Wenn er lebt, wird er Alarm schlagen!“
„Wenn er lebt,“ entgegnete Gilia, „werden sie glauben, wir wollten nur fliehen. Töten wir ihn, dann jagen sie uns bis ans Ende der Welt.“
Für einen Moment war es still. Nur das Tropfen von Wasser, das Knarren der Tür. Gilia spürte, wie alle Augen auf ihr lagen. Sie sah den jungen Wächter, der zitternd am Boden lag, und in ihm erkannte sie etwas, das sie nicht töten wollte: die gleiche Angst, die sie selbst kannte.
„Wir sind nicht wie Halwart,“ sagte sie tonlos, aber fest. „Wir sind nicht wie mein Vater.“ Die letzten Worte hatte sie nur noch für sich gewispert.
Fenia senkte die Klinge, widerwillig. Bogumil nickte, erleichtert. Connar aber sah Gilia an, und in seinem Blick lag etwas Neues – Respekt.
Als sie die Waffenkammer erreichten, schnappte sich Gilia einen Reitersäbel und eine Lederrüstung an. Das Leder war kalt, schwer, und doch fühlte es sich an wie ein Versprechen. „Und, große Anführerin, verrätst du uns nun, wohin wir uns wenden sollen?“ fragte Fenia spöttisch. Ruhig und routiniert schloss Gilia die Schnallen ihrer Rüstung. „Wer wird uns wohl dabei helfen, Halwart zu befreien und den Finsterstein zu entsetzen?“ bohrte Fenia weiter. „Sollen wir den Ogerfresser um Hilfe bitten? Oder glaubst Du, dass wir vier es sogar bis nach Gneppeldotz oder gar Steinfelde schaffen?“
Gilia kontrollierte ruhig den Sitz ihrer Rüstung und schaute dann in die Runde. „Wer sagt, dass wir einem Herren oder einer Herrin dienen müssen?“ fragte sie lauernd. Connar nickte kaum merklich, doch in seinen Augen lag Anerkennung – und ein Versprechen. Bogumil schaute sauertöpfisch drein. Man konnte sehen, dass er nicht gänzlich von dem Vorschlag überzeugt war. Fenia hingegen verschränkte die Arme vor der Brust. „Große Töne von einer kleinen Knappin!“ höhnte sie. Gilia richtete sich auf und überragte damit die kleinere Fenia. „Ich werde jetzt da raus gehen und über die Brüstung steigen, um von hier zu verschwinden!“ sprach sie und wandte sich zum Gehen.
Der Wind peitschte über die Zinnen, kalt und schneidend wie ein Messer. Gilia trat hinaus, die Lederrüstung schwer auf ihren Schultern, doch in ihrem Inneren war sie leicht wie nie zuvor. Unter ihr tobte der Sturm, Schneeflocken wirbelten wie weiße Funken durch die Nacht.
Fenia packte sie am Arm, ihre Finger klamm, ihre Stimme voller Spott: „Was glaubst du, wer du bist, Knappin?“
Gilia hielt inne, spürte die Kälte, die durch die Rüstung drang, und zugleich die Wärme des Dolchs an ihrer Seite. Sie hob den Blick, sah über die Brüstung hinaus in die Dunkelheit – und erkannte darin nicht nur Gefahr, sondern Freiheit.
„Ich weiß genau, wer ich bin,“ sagte sie, ihre Stimme klar und unerschütterlich. „Gilia von Eichenblatt.“
Sie löste Fenias Griff, setzte den Fuß auf den Rand der Brüstung. Für einen Augenblick war es, als hielte die Welt den Atem an – der Sturm, die Mauern, selbst die Schatten der Gefangenschaft. Dann stieg sie hinab, hinaus in die Nacht, und jeder Schritt war ein Schwur: Hinter ihr lag der Kerker, vor ihr die Nacht der eigenen Bestimmung.