Geschichten:Von Praios Gnade

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Efferdane verbrachte, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, den anstehenden Jahreswechsel in ihrem Stadthaus in Dergelmund. Ihre Ratgeber hegten die Hoffnung, dass das milde Küstenklima die zunehmende Versteifung ihrer Gelenke zumindest lindern könne. Lange hatten sie deswegen auf die Baronin einreden müssen, bis diese endlich nachgab, hasste die Edeldame Reisen jedweder Art mittlerweile sehr. Doch waren es nicht nur ihr hohes Alter, die Baronin zählte mittlerweile 91 Götterläufe, und die damit einhergehenden Gebrechen, die ihr das Reisen verleideten, sondern hauptsächlich der Umstand, dass es niemanden von Belang mehr gab, den sie hätte besuchen können. Sie alle waren längst tot und begraben.

Die Tage ohne Namen, an denen sich ohnehin jeder zu Hause einschloss anstatt seinem Tagewerk nachzugehen, nutzte die Baronin, wie schon seit vielen Jahren, zur Überprüfung und Ordnung der Soldlisten, Bücher und der Korrespondenz mit der markgräflichen Administration in Perricum. Zwar hatte die alte Dame ebenso tüchtiges wie zuverlässiges Personal in ihren Diensten, doch verfuhr sie schon seit jungen Jahren nach der Devise, dass Vertrauen gut, praiosgefällige Kontrolle jedoch weit besser sei.
Immer öfter musste sie die Arbeit zugunsten einer Pause unterbrechen; Momente, in denen Efferdane dann die ganze Last ihres Alters spürte. Noch vor zehn Götterläufen wäre sie nach spätestens zwei Tagen mir den Überprüfungen fertig gewesen. Nun brauchte sie doppelt so lange und war danach völlig erschöpft. Erneut legte die einstige Gouverneurin der Stadt des Lichts Zwicker und Griffel zur Seite. Ihre Augen schmerzten und sie konnte sich kaum noch konzentrieren. Wie sehr sie doch ihre alten Freunde und Weggefährten in diesen Momenten beneidete: Diese waren allesamt schon vor vielen Götterläufen aus den verschiedensten Gründen vor Rethon getreten, doch war den meisten von ihnen die mehr als beschwerliche Last des Alters dadurch erspart geblieben. Und jüngere Leute wie dieser ebenso fähige wie verlässliche Zordan von Rabicum waren sehr rar gesät.
In solchen - immer öfters auftretenden - Momenten der Schwäche fragte sie sich nicht selten, was der Herr Praios mit ihr noch vorhaben könne, dass er sie solange von seinem Paradies fernhalte. Die Piraten, die seit einiger Zeit die Küsten der Provinz, und damit auch die ihrer eigenen Baronie, heimsuchten, mochten es wohl kaum sein. Der Gedanke an dieses praiosverfluchte Lumpengesindel ließ die ohnehin schon verhärmten Gesichtszüge der Greisin noch verbitterter wirken. Piraten! Direkt vor dem Sitz der einst stolzen Perlenmeerflotte! So etwas wäre unter Kaiser Reto undenkbar gewesen. Wie sich ohnehin seit dessen Tod im Reiche vieles zum Schlechteren entwickelt hatte. Immerhin schien Retos Urenkelin aus einem anderen Holz als ihre Vorgänger geschnitzt zu sein, hatte sich die junge Kaiserin doch unlängst aufgemacht, das viel zu lange von den Feinden der zwölfgöttlichen Ordnung besetzte Tobrien zu befreien. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung auf ein wiedererstarktes Raulsches Reich. Efferdane schüttelte sich kurz und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Weder der Götterfürst noch sie selbst schätzten den Müßiggang. Außerdem stand nur noch die Soldliste für ihre Büttel zur Durchsicht an. Geschafft! Die letzten Anmerkungen wurden an den Rändern des Pergaments angebracht, morgen konnte dann alles in Reinschrift gebracht und am 1. Praios schließlich gesammelt nach Perricum gesandt werden. Vielleicht würde sie die Dokumente auch selbst in Perricum abliefern. Auch wenn Efferdane die Stadt nicht mochte; allzu viele Gelegenheiten zu einem Besuch dort würde sie wohl nicht mehr erhalten. Mit einem leisen Stöhnen erhob sich die Adlige langsam von ihrem Stuhl und begab sich zu einem weitaus bequemeren Sessel direkt neben dem Fenster. Die zierliche Frau schien beinahe darin zu versinken, streckte sich kurz und warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. In der einsetzenden Abenddämmerung konnte sie die Lichter Perricums sowie ein seltsames rötliches Leuchten sehen. Wahrscheinlich feierten die Einwohner dieser stets viel zu lauten und chaotischen Stadt noch ausgiebig den letzten Tag des Jahres, bevor sie sich für die Dauer der Tage ohne Namen in ihre Häuser verkrochen.

Abrupt wurde die Tür zu ihrem Arbeitszimmer aufgerissen, was die überraschte Baronin kurz zusammenzucken ließ. Die Kammerzofe Efferdanes stand schwer atmend und mit einem Ausdruck des Entsetzens im Türrahmen. Die Adlige musterte die Zofe mit leicht abschätzigem Blick und fragte: "Was gibt es so dringendes Carina, mein Kind, dass Du Deine Manieren vergisst und einfach so hereinplatzt?" Die Angesprochene, die immerhin auch schon achtundsechzig Götterläufe zählte, entgegnete: "Hochgeboren, Haffax ist in Perricum gelandet, in der Stadt toben schwere Kämpfe und Brände wüten allenthalben! Was sollen wir tun?"
Wortlos erhob sich die Baronin, öffnete das Fenster, setzte ihren Zwicker auf und betrachtete erneut die Silhouette der nahegelegenen Reichsstadt. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Entsetzen spiegelten sich auf dem Antlitz der Adligen, die ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte. Von ihrer einst geradezu legendären Selbstbeherrschung war nichts mehr geblieben. Das war also das Ende. "Herrin? Wie lauten Eure Anweisungen?" fragte Carina mit kaum unterdrückter Angst.
Ohne ihren Blick von der Stadt abzuwenden antwortete die Angesprochene nach einer kurzen Pause: "Räumt Dergelmund. Die Einwohner sollen entweder darpataufwärts oder die Küstenstraße entlang Richtung Vellberg fliehen. Alle Bewaffneten und Waffenfähigen sollen sich bei Thannfest sammeln und schickt Boten in die Nachbarlehen, um diese zu warnen. Ach, und vergesst nicht, die Bücher und sonstigen Dokumente einzupacken." Hierbei wies sie mit der linken Hand auf den Schreibtisch, auf den die diversen Kassenbücher und Listen lagen, die sie bis vor wenigen Augenblicken noch durchgesehen hatte.
"Und was ist mit Euch?"
"Ich bleibe hier, meine Arbeit ist beendet. Es gibt für mich nichts mehr zu tun."
"Aber-"
"Geht!"
Zögernd verließ die Zofe die Kammer und schloss die Tür. Vielleicht brauchte ihre Herrin jetzt einfach nur einen Moment für sich. Später, wenn die Vorbereitungen zur Abreise abgeschlossen wären, würde sie sie abholen.

Die Herrin zu Bergthann musste nun mit ansehen, wie sich, buchstäblich auch vor ihrer Tür, in Dergelmund Panik ausbreitete. Sie konnte Plünderungen sehen, Fischer, die Verzweifelten ihre letzten Heller abknöpften, um sie über den Golf von Perricum in die vermeintliche Sicherheit zu bringen, ja sogar einige Stadtwachen, die Flüchtenden ihre Habseligkeiten abnahmen, um sich damit selbst aus dem Staub zu machen.
"Herre Praios, warum nur?!" schluchzte Efferdane mit tränenerstickter Stimme, bevor sie das Fenster wieder schloss und im Sessel Platz nahm. Als gut eine halbe Stunde später Carina ihre Herrin abholen wollte, traf sie diese scheinbar schlafend, die Hände über den Bauch gefaltet und mit einem friedlichen, beinahe heiteren, Gesichtsausdruck aufrecht im Sessel sitzend an.
Der Götterfürst hatte seine treue Dienerin endlich erhört.