Geschichten:Pulether Fehde - Teil 17: Im Auge des Betrachters

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Burg Orbetreu, 18. Peraine 1029 BF


„Schwarzer Turm“ nannten die Soldaten das Gemäuer, doch war es der einzige Ort auf der ganzen Burg, wo sie ein wenig Ruhe hatte. In den letzten Tagen herrschte eine hektische Betriebsamkeit. Der Schwingenfelser war damit beschäftigt, die Burg auf eine Belagerung vorzubereiten. Er rechnete damit, dass ihr Mann einen Angriff starten würde. Nachdem ihre Tochter versorgt war, hatte sich Raulgard auf den Turm zurückgezogen. Müde betrat sie die Dachplattform und ging vorsichtig zur Brüstung.

„Ihr seid sehr häufig hier oben!“ hörte sie eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte sie sich herum.

Der Schwingenfelser saß auf der Brüstung und war mit der Pflege seiner Waffen beschäftigt.

„Ihr nicht!“ sagte sie, nachdem sie sich gefasst hatte.

Der Schwingenfelser schmunzelte: „Nun, ich wollte sehen, was Ihr hier tut! Man hat mir berichtet, dass Ihr öfters hier oben seid.“

„Sonst habe ich ja nicht meine Ruhe.“

„Verzeiht, aber ich habe diese Burg auf eine Belagerung vorzubereiten!“

Raulgard musste lachen. „Was denkt Ihr Euch eigentlich, wie das hier für Euch ausgeht?"

„Wir werden sehen!“

„Ihr macht Euch mächtige Feinde!“

Der Schwingenfelser blieb ruhig: „Ich weiss!“

Langsam wurde Raulgard wütend. Dieser Kerl machte einen sehr arroganten Eindruck auf sie. „Habt Ihr überhaupt keine Furcht?“

Hadrumir hob seinen Anderthalbhänder: „Nicht so lange ich den in meinen Händen halten kann!“

„Das heißt, dass Ihr mich hier zur Not länger festhalten werdet?“

„Ich habe Euch schon gesagt, dass Euch kein Leid widerfahren wird. Und Ihr werdet hier nicht länger bleiben als nötig. Das schwöre ich bei meiner Ehre als Ritter.“

„Ritter? Ihr wagt es, Euch Ritter zu nennen? Ihr habt einen Eid geschworen, die Hilflosen und Unschuldigen zu schützen!“

Hadrumir schaute sie ernsthaft an: „Ihr seid vielleicht hilflos, aber mitnichten unschuldig. Oder habt Ihr Eurem Gemahl gesagt, er möge den Grützer zurückrufen? Ich denke nicht!“

Raulgard war erbost: „Und meine Tochter?“

„Leider ein notwendiges Übel! Ich kann doch einem kleinen Kind nicht die Mutter nehmen.“

„Ihr habt eine komische Art, Euren Eid zu erfüllen.“

„So viele Eide… man schwört und schwört. Man kommt ja nicht mehr aus dem Schwören hinaus. Verteidige die Königin. Gehorche dem Grafen. Bewahre das Volk vor dem Übel. Erfülle die Befehle der Kaiserin. Gib – wenn nötig – dein Leben für das ihre. Aber gehorche deinem Vater. Liebe deine Familie. Beschütze die Unschuldigen. Verteidige die Schwachen. Achte die Götter. Gehorche den Gesetzen. So etwas kann keiner erfüllen. Es ist einfach zuviel. Man kann das eine nur erfüllen, wenn man das andere bricht. Vor allem, wenn man in der Schlacht steht.“

„Ein Ritter steht zu seinem Eid! Egal was kommt!“

„Ach, hört mir doch damit auf! Man erwartet von einem Ritter, dass er tötet. Macht er das gut, dann wird er als Held gefeiert! Macht er es schlecht, dann ist er edelmütig! Was für ein Ausdruck! Edelmütig! Pah! Ich bin diesen Scheiß so was von satt!“

Die harten Worte verwirrten Raulgard. „Was meint Ihr?“

„Es ist mir so etwas von egal, wer Graf ist. Geismar regiert nach Erbrecht! Luidor beruft sich darauf, dass schon die Herrschaft des ersten Grafen Geismars unrechtmäßig war. Und wenn das nicht gilt, dann wirft er ihm Muttermord vor. Jeder hier will dem anderen nicht klein bei geben. Und wer ist am Ende der Leidtragende? Das Volk!“

„Was wollt Ihr denn erreichen?“

„Was ich will? Die Grafschaft ist mir egal! Auch das Volk ist mir egal! Ich will nur Gerechtigkeit für meine Familie! Wir waren stets treue Vasallen der Grafen. Gedankt hat es uns keiner! Ich will den Kopf des Grützer! Und ich will keine Einmischung in diese Angelegenheit! Und schon gar nicht von Seiten der Hartsteener!“

Raulgard warf stolz dazwischen: „Durch meine Entführung habt Ihr es zu einer Angelegenheit der Hartsteener gemacht!“

„Nein! Das war der Grützer! Ich habe Euch den Brief gezeigt! Jetzt ist es an Eurem Gemahl zu handeln!“

Raulgard blickte ihn ernst an: „Ich denke, dass dies im Auge des Betrachters liegt. Aber ich denke nicht, dass ich dies weiter mit Euch besprechen kann.“ Damit wandte sie sich zum Gehen.

Hadrumir schaute über das Umland und sprach zu sich selbst: „Im Auge des Betrachters? Wir werden sehen!“