Geschichten:Schattenkrieger – Das Innere Sanctum

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Das Innere Sanctum

Am Ehrenfelder Trollgrab, 5. Boron 1039 BF

Es hatte nicht allzu lange gedauert, ein paar Bauern und Werkzeuge aufzutreiben; Orbert von Hagenau-Ehrenfeldt, der Herr dieser Ländereien, ließ seinen Gästen alle erdenkliche Hilfe zukommen. Und letztlich war der Fall des Himmelssteins – und um einen solchen musste es sich hier gehandelt haben, da waren sich die Gelehrten unter Begleitern des Kronobristen inzwischen einig – ein besonderes Ereignis, an dem er teilhaben konnte, und somit eine willkommene Abwechslung zum sonst so tristen Alltag.

Das Erdreich war inzwischen weitestgehend aus der Grube geschafft worden, und die Bauern, die der Herr auf Ehrenfeldt dort unten schuften ließ hatten den Gang soweit freigelegt, dass man ihm in Richtung des Hügels folgen konnte. Die entgegengesetzte Seite war jedoch weiterhin verschüttet. Wulf stand am Rand der Grube und blickte hinab in die Dunkelheit. Ritter Orbert, der neben ihm stand, nickte bedächtig; dann hob er das Haupt und sah in den Abendhimmel. Es dämmerte bereits. »Ich denke, für heute ist es genug, nicht wahr?«

Wulf sah ihn fragend an. »Wie meint Ihr das?«

»Es dämmert bereits. Sie«, er wies auf die Bauersleut, »sollten zusehen, dass sie nach Hause kommen. Morgen ist ein neuer Tag.« Orbert winkte seinen Untergebenen erneut, und diese schickten sich an, ihr unverhofftes Tagewerk zu beenden.

»Ich hatte eigentlich gehofft, wir würden das Geheimnis heute noch lüften. Und wenn ihr mich fragt, der Gang ist nun frei genug, um zu erkunden, was dahinter liegt.«

Orbert von Hagenau-Ehrenfeldt schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich steige bestimmt nicht in diese Grube hinab, nicht bevor ich sicher sein kann, dass keine Gefahr droht. Und heute ganz gewiss nicht mehr.« Das Interesse, das er noch am Nachmittag gezeigt hatte, schien verflogen.

»Ihr seid gar nicht neugierig?« Wulf versuchte, den Ritter aus der Reserve zu locken.

»Nur, wenn sich dort unten ein Schatz verbirgt. Doch wenn ich Euch richtig verstanden habe geht es doch um die mystische Vergangenheit dieses Ortes, nicht wahr? Und von Mystik wird man nicht im Säckel reich, sondern allenfalls im Geiste. Wenn überhaupt.«

»Wenn dies so ist… Ich denke, gerade die gelehrten Damen würden gerne noch etwas verweilen, um dem Ort seine Geheimnisse zu entlocken.« Wulf deutete mit einem Kopfnicken auf seine Hofmagierin, die zusammen mit der Hesindegeweihten und Larena abseits in einen Disput verwickelt war.

»Tut, was Euch beliebt. Außer alten Steinen und Knochen werdet Ihr eh kaum etwas finden, fürchte ich. Für meinen Teil ziehe ich mich auf das Gut zurück; die Nächte werden bereits kälter. Wenn Euch der Sinn anders steht, nur zu. Ansonsten kennt Ihr den Weg zu Eurer Schlafstatt, denke ich.« Damit wandte er sich ab und verschwand.

-

Die Neugier des Uslenrieders und seiner Begleiter war hingegen geweckt wie selten zuvor. Vielleicht lag es daran, dass sie als Geweihte einen anderen Blick auf die Dinge hatte und das Himmelsfeuer als ein Zeichen sahen, und auch Alcara konnte sich dem wissenschaftlichen Aspekt ihres Hierseins als Magierin nicht verschließen. Wulf hingegen glaubte zu spüren, dass diese Entdeckung etwas zu bedeuten hatte. Korgond und die Reliefsteine kamen ihm in den Sinn, doch dieser Ort mochte so gar nicht zu dem passen, was bislang über die gesuchte Stätte bekannt war. Dennoch fühlte er sich einem Ziel nahe, von dem er nicht wusste, was er war. Oder mochte es nur daran liegen, dass sie diesen Platz als Ort der Heerschau auerkoren hatten und nun ein derartiges Zeichen hier geschehen war? Er wollte es herausfinden.

Sie entzündeten Fackeln, dann stieg Jessa als erste die Leiter in die Grube hinab und trat einige Schritte in den Gang hinein. Die Handvoll Bauern, die am Tage hier gegraben hatten, hatten sich tunlichst zurückgehalten; der Hügel und seine Geheimnisse waren ihnen nicht geheuer. Und aufgrund der Tiefe des Loches hatte das Sonnenlicht auch nur die ersten paar Schritt in den Gang hinein noch ausleuchten können.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Jessa wieder am Schacht auftauchte. Der Krater, den der Himmelsstein in die Erde geschlagen hatte, war kaum zwanzig Schritte vom Rand des Hügels entfernt. »Der Gang sieht stabil aus, soweit ich das beurteilen kann, und er führt schnurgerade weiter, wie wir vermutet haben.«

»Also ins Innere des Hügels?« fragte Wulf.

»Ja, ganz sicher. Am Ende ist eine Art Felsentür.«

Nacheinander stiegen sie die Leiter hinab. Der Gang war über drei Schritt hoch und etwa zwei Schritt breit; Boden, Seitenwände und Decke bestanden aus aufgeschichtetem Felsgestein.

Wulf und Jessa, die vorne gegangen waren, besahen sich die Pforte. Sie bestand aus einer massiven Steinplatte; ein Schloss, Griff oder sonstwie gearteter Öffnungsmechanismus war nicht zu erkennen.

»Lasst mich einmal sehen.« Alcara, die Magierin, drängte ihre schmale Gestalt nach vorne. Sie legte die Hand auf die Tür und murmelte eine Formel. Sie hielt eine Zeitlang inne, dann ließ sie die Tür los. »Der Mechanismus ist magisch. Wenn ich recht liege, braucht man die Tür nur zu berühren, um sie zu öffnen; die Bedingung jedoch ist mir noch nicht klar. Auf meine Hand hat sie ja nicht reagiert.«

»Und wie kommen wir dann hinein?« Larenas vorlautes Mundwerk kam ihrer Neugier zuvor. »Probieren wir es einfach aus?« damit drängelte sie sich zwischen Jessa und Alcara hindurch und legte die Fingerspitzen auf den Fels. Nichts geschah.

»Damit hätten wir dann zwei erfolglose Versuche«, kommentierte Jessa trocken. »Folgt also der dritte.« Sie streckte die Hand aus, legte die Handfläche auf den Stein. »Und nun der nächste.« Sie sah ihre Begleiter an, doch jene starrten nur auf die Wand.

Dort, wo Jessas Hand den Fels berührt hatte, war ein Abdruck geblieben – rot wie Blut. Die Korpriesterin besah ihre Hand, doch an dieser war nichts zu erkennen.

Dafür setzte ein leises Grollen ein, und ein gezackter Riss bildete sich im Stein, als wäre er von oben nach unten gespalten. Langsam glitten die zwei Hälften der magischen Pforte seitlich in die Felswände des Ganges.

Larena pfiff durch die Zähne. »Das war ja fast zu einfach.«

»Das werden wir sehen. Aber verwunderlich ist es schon, ja.« Mit diesen Worten trat Wulf durch das Tor.

-

Hinter dem Durchgang öffnete sich eine kreisrunde Höhle, zumindest so weit man es erahnen konnte. Steinere Stelen trennten die Kaverne in einen äußeren Ring und einen inneren Kreis, doch Platz war zu beiden Seiten der Säulenreihe nur jeweils gute zwei Schritte. Das eigentliche Zentrum der Kaverne wurde von einer leicht pulsierenden grauen Blase eingenommen, über die immer wieder verschiedenefarbige Schlieren huschten.

»Eine alte Kultstätte«, stellte Kilea nüchtern fest, »von wem auch immer.« Sie leuchtete mit der Fackel umher; dann entdeckte sie die steinernen Halter in den Säulen und platzierte ihre Fackel dort.

»Und was ist das da?« Larena preschte wieder, von der Neugier getrieben, vor und stellte die Frage, die ihnen allen durch den Kopf ging.

»Nicht anfassen«, sagte Areana, die Hesindepristerin, und legte Larena die Hand auf den Arm; jene war drauf und dran, das graue Etwas zu berühren. Die Veränderung der Auswölbungen, welche die Blase schlug, erinnerte an einen Herzschlag, nur weitaus unregelmäßiger.

Wulf sah hinüber zu seiner Hofmagierin. »Irgendeine Idee, was das hier zu bedeuten hat?«

»Ein Tor in den Limbus; vielleicht auch eine Globule.« Alcara schien fasziniert. Sie schritt an der wabernden Blase entlang, Hand und Fingerspitzen ausgestreckt, als versuchte sie, das Geheimnis zu erspüren. Allerdings achtete sie darauf, dass ihre Finger nicht mit der wabernden Wand in Berührung kamen.

»Und wie kommen wir das durch?« Wieder war es die junge Nandusgeweihte – mit dem Kopf durch die Wand, wie Wulf amüsiert feststellte.

»Auch wenn es gallertartig oder wie eine Eihaut aussieht – ich denke, man kann hindurchtreten. Es ist eine magische Barriere, vielleicht auch ein Tor.« Alcara zögerte einen Augenblick. »Ich werde es versuchen.«

»Sicher?« Jessa war überrascht; die Magierin gehörte ansonsten keineswegs zu den Mutigen.

Alcara nickte, weitaus entschlossener, als ihre Begleiter es bislang von ihr gewohnt waren, »Wenn es eine magische Grenze ist, und davon bin ich überezugt, dann liegt es im Bereich des Möglichen, dass man nur durch den Einsatz von Magie wieder zurückkehren kann. Und jemand anderes als ich ist hier dazu nicht imstande.

Areana warf ihrer Geliebten einen vielsagenden Blick zu. »Sei vorsichtig«, war jedoch alles, was sie tatsächlich sagte, doch ihren Augen sprachen mehr.

Langsam nickte die Angesprochene, dann drehte sie sich um und ging auf die Blase zu.

-

Alcara trat durch das graue Wabern – und wurde wie von einer Gigantenfaust getroffen zurückgeworfen. Sie krachte gegen die Felswand, wo sie benommen und leise wimmernd liegen blieb; aus einer Platzwunde an ihrer Schläfe sickerte Blut.

Larena war als erste zur Stelle. Behutsam legte die den verrenkt daliegenden Körper der Magierin auf den Steinboden.

Areana Bellenthor, die Hesindepriesterin, hockte sich neben Larena und legte die Hand auf Alcaras Leib. Leise sprach sie die Worte eines Gebets, und augenblicklich entspannte sich der geschundene Leib der Magierin.

Langsam öffnete Alcara die Augen. Fragend sah sie die Versammelten an, kaum fähig sich zu rühren; es schien, als müsse sie sich erst einmal erinnern, was geschehen war.

»Was war das?« Larena konnte ihre Neugier wie üblich kaum zügeln und sprach aus, was sie alle dachten, doch noch nicht zu fragen gewagt hatten.

»Lasst ihr Zeit«, unterbrach die Hesindepristerin, »sie muss erst einmal zu sich kommen.«

Larena verzog die Mundwinkel; Geduld war eine ihrer weniger ausgeprägten Tugenden.

Wulf blickte nachdenklich hinab auf seine Cousine und Hofmagierin. Diese schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Es war, als hätte ich eine Stimme gehört, als ich die *Grenze* berührte.« Alcaras Stimme klang brüchig, schwach. Der Schlag, der sie getroffen hatte, hatte sie deutlich geschwächt.

»Eine Stimme? Hat sie etwas gesagt?« Areana, die den Kopf der Geliebten in ihren Schoß gebettet hatte, strich ihr sanft über die Stirn. »Erinnere Dich.«

»*Du bist vom rechten Blut, doch allein; Du bist das Falsche, doch nicht vereint zu zweien.*« Die Worte kamen langsam; es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Dennoch wiederholte sie den Spruch, mehrmals, von mal zu mal schneller werdend.

Die Versammelten sahen sich an. »Vom rechten Blut…«, murmelte Wulf.

»Liegt es nicht auf der Hand?« fragte Kilea von Hagenau-Ehrenfeldt, die Bannstrahlerin. Sie war den ganzen Tag bereits sehr schweigsam gewesen. Es beschäftigte sie, dass das Trollgrab, welches in unmittelbarer Nähe ihres Heimatklosters lag, offenbar magische Geheimnisse aufwies, von denen auch die Geweihten des Klosters Sonnenau über Jahrhundert nichts geahnt hatten. »Das richtige Blut. Stammlinien. Blutsverwandschaft.«

»Also unsere Familie?« hakte Larena nach.

Kilea nickte. »Ich denke ja, warum auch immer.«

»Also muss jemand aus unserer Familie dort hindurchschreiten«, stellte Larena fest. »Wenn Alcara nicht recht ist, bleiben ja nur Wulf, Sinya und ich.«

Sinya schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich bin keine Streitzig.«

»Und wenn es *das Falsche* hieß, worauf bezieht es sich? Was unterscheidet Euch? Die Magie, die Weihe, das Geschlecht?« Kilea blickte auffordernd in die Runde.

»Es kann alles sein«, erwiderte Areana Bellenthor. »Und da war noch mehr. Vereint, zu zweit, waren das nicht die Worte?«

Alcara hustste, dann nickte sie, so gut es ging. »Ja.«

»Also müssen zwei hindurch«, sinnierte Wulf.

»Ganz recht, und zwar zwei, die verbunden sind. Ihr und Eure Gemahlin.« Die Hesindegeweihte sah zu ihm auf. »Ihr seid verbunden durch den Traviabund. Und beide geweiht, noch dazu Göttern, deren heilige Zahl dieselbe ist.«

»Und vereint durch das Blut, welches sich in Euren Kindern verbindet«. Jessa verschränkte die Arme vor der Brust; für sie schien festzustehen, dass nur dies die richtige Vorgehensweise sein konnte.

Sinya nickte, dann sah sie Wulf an. »Sie haben recht. Wenn hier jemand diese Bedingung erfüllen kann, dann nur wir. Lass es uns versuchen.« Sie sah ihrem Gemahl an, dass diesem nicht wohl bei der Sache war; nicht um seinetwillen, sondern ihretwegen.

Wulf atmete tief ein. »Nun denn. Offenbar haben wir keine andere Wahl, wenn wir hinter das Geheimnis kommen wollen.« Er nickte den übrigen zu, dann wandte er sich um und ging auf wabernde Blase zu; seine Gemahlin folgte ihm, stelle sich an seine rechte Seite.

Sinya ergriff seine Hand. »Vereint«, flüsterte sie. Dann traten sie vor, und das schillernde Wabern verschluckte sie.

1 — Fuchspfad

Obwohl sie zusammen hinein – oder hindurch – getreten waren, war er allein. Wulf blickte sich um, doch seine Gemahlin war nirgends zu erblicken. An den Rändern der Kaverne flackerten kleine Flammen wie von Öl- oder Talglichtern, und es reichte kaum, um den Mittelpunkt des Runds zu erhellen.

Suchend sah er sich um. Auch der Eingang der Kaverne war verschwunden; dennoch umrundete er einmal die gesamte Kaverne an ihrem Rand, um sicherzugehen, dass er sich nicht irrte. Schließlich trat er auf die Mitte der Kaverne zu.

Inmitten des Runds erhob sich ein grob behauener Felsblock, im schwachen Licht kaum mehr als schemenhaft zu erkennen. Langsam näherte er sich, und als er angekommen war sah er einen kleinen Gegenstand auf dem Felsblock liegen. Er griff mit der Linken danach und besah es sich genauer; es war ein Amulett in Form eine Fuchskopfes, wie auch Sinya eines trug. Nein, es war IHR Amulett!

In dem Augenblick, als die Erkenntnis durch seinen Kopf schoss, veränderte sich die Höhle; urplötzlich wallte dichter Nebel auf, ein blaugraues Leuchten erzeugte geisterschafte Schwaden.

Er spürte etwas hinter sich; Gefahr, mahne ihn eine Eingebung. Er zog das Schwert, fuhr dabei herum, und seine Klinge durchtrennte eine Nebelgestalt, die hinter ihm aufgetaucht war. Er machte einen Schritt vorwärts, und von den Seiten stürzten zwei weitere Nebelleiber auf ihn ein. Er ließ die Klinge über dem Kopf kreisen, ging in die Knie, und die Kreaturen vergingen, als die Schneide sie berührte.

Noch ein Schritt, dann noch einer, und zwei weitere. Dieses Mal nahm er die Gestalten eher war, und anders als die bisherigen trugen sie aus dem Nebel geschaffene Waffen; es waren drei. Ein Schlag hier, ein Stich dort, blocken, abwehren, ausweichen, noch ein Hieb, und auch diese Angreifer waren nicht mehr, vermengten sich mit dem bläulichen Nebel.

»Bemerkenswert«, wisperte eine Stimme aus dem Nirgendwo. Sie kam von überall zugleich. Wulf drehte sich suchend einmal um die eigene Achse, doch entdeckte nichts.

»Spürst Du sie?« hauchte die Stimme. Wulf hingegen antwortete nicht. Intuitiv wandte er sich wieder um und ging mit schnelleren Schritten als bisher in die Richtung, in welche er geblickt hatte, bevor die erste Nebelgestalt hinter ihm aufgetaucht war. Er brauchte nur ein halbes Dutzend Schritte, bis er die nächsten Nebelleiber erblickte; dieses Mal waren es vier. Er stürzte vor; sein Schwert durchbohrte die erste Gestalt, dann die zweite. Dem Hieb der dritten wich er gekonnt aus, setzte zu einem Konter an und durchtrennte den Nebelkörper in der Mitte. Eine Vierteldrehung, und seine Klinge raste auf die vierte Gestalt zu, auf Kopfhöhe.

Die Konturen der Gestalt verfestigten sich, es war – Sinya, doch auch ihr Leib war aus Nebel. Er riss die Klinge hoch; das Schwert fuhr haarscharf an ihrem Kopf vorbei; sie jedoch blieb regungslos.

»Du kannst sie nicht ewig beschützen«, flüsterte die Stimme.

Die Gestalt zerfiel, löste sich auf, zurück blieb nur der Nebel.

Die Blase zerplatze.

2 — Blutspur

Sie war allein. Sie stand am Rand der Kaverne, dort wo der Gang in die Höhle hineinführte, doch als sie sich umsah, war dort nur Stein. Suchend sah sie sich um, doch ein Ausgang war nirgends zu sehen. Stattdessen erblickte sie Spuren auf dem Boden.

Sie hockte sich hin und besah sich die Spur genauer. Die Abdrücke waren rotbraun, wie von getrocknetem Blut. Und die Abdrücke gehörten zu schmalen Stiefeln, sie mussten einer Frau gehören. Verstört streckte sie den linken Fuß vor und setzte die Sohle neben die Spur; es waren ihre eigenen Fußabdrücke. Fröstelnd erhob sie sich; sie hatte das Gefühl, als sei es in der Kaverne schlagartig kälter geworden. Langsam folgte sie der Spur.

Die Spur führte zu einem grob behauenen Felsblock, der in der Mitte der Kaverne stand. Etwas ruhte darauf, doch im Dämmerlicht konnte sie es nicht genau erkennen. Erst als sie näher kam, erkannte sie es – und erschrak.

Auf dem Stein lag der Kopf ihrer Schwester Silvana.

»Du hast sie getötet, erinnerst Du Dich?« Die Stimme kam aus dem Nirgendwo, von überall zugleich.

Sinya nickte; Tränen füllten ihre Augen. »Ich hatte keine andere Wahl...«

»Hattest Du nicht?« Nun war es der Schädel, der sprach. »Ich denke schon. Doch Du wolltest nicht!«

Sinya straffte sich. »Du hast uns verraten. Unsere Familie, unser Land; Du hast durch Deine Intrigen unsere Zukunft zerstört. Und nicht nur Du.«

»Pah, Du warst nur zu blind, die Zukunft zu sehen, kleine Schwester. Du hast nicht gesehen, was hätte sein können, hast nicht erkannt, welche Größe der Plan hatte.«

»Welcher Plan? Der Verrat, den ihr am Reich und an den Göttern begangen habt? Ein Land voller Tod, wo die Dämonen umhergehen? Ein Erbe gebaut auf dem Blut unserer Ahnen, dass Du selbst vergossen hast?«

»Mutter war schwach. Und Du bist es auch.«

»Ich bin stärker, als Du es jemals auch erahnen könntest. Stärker als Mutter je war.«

»Das glaubst Du. Doch Glaube ist trügerisch.«

»Ich weiß es. Und Dir habe ich es bereits bewiesen!« Zorn kochte in Sinya hoch; es fiel ihr schwer, sich zu beherrschen, doch es gelang.

»Ach, ein Zufall, reines Glück. Doch auch Dein Glück wird nicht ewig währen.«

»Was weißt Du schon davon? Du redest vom Glück, doch kennst nur Lug und Trug. Es war Dein Schicksal, die Strafe für Deine Taten zu finden. Ich bedaure lediglich, dass es durch meine Hand geschehen musste.«

»Siehst Du, dann bist Du nicht anders als ich. Auch an Deinen Händen klebt das Blut unserer Familie.«

Die Wut nahm überhand. Mit einem schnellen Streich wollte sie den Schädel vom Felsblock fegen, doch ihre Hand fuhr ohne Widerstand hindurch.

»Du widersetzt Dich Deinem Schicksal, forderst Dein Glück heraus, spielst um das Leben Deiner Familie – und immer hast Du gewonnen. Bisher.« Der Schädel, der einst Silvana war, grinste spöttisch. Dann spuckte er zwei Würfel aus, aus Bein geschnitzt. Klappernd rollten sie über den Steinboden, bis sie schließlich liegen blieben; der eine zeigte die vier, der andere die fünf.

»Neun«, sagte der Schädel. »Eine Zahl, die man nicht mit einem Würfel werfen kann. Auch ein Glück, dass mit Travia begann, wird mit Boron enden.«

Sinya blickte zu Boden, dann auf den Schädel ihrer Schwester, dann wieder auf die Würfel. Sie schwieg; Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie war versucht, die Würfel zu zertreten, mit einem Fußtritt von dannen zu schleudern, doch die Vernunft siegte.

Der Schädel verschrumpelte. Die Haare fielen aus, lösten sich auf; Haut und Fleisch vertrockneten, bis nur noch ein Totenschädel blieb. Schließlich zerfiel auch der Knochen zu Staub.

Die Blase verging.

3 — Die Prophezeiung der Neun

Der Nebel war verschwunden, doch anders als erwartet fand sich Wulf nicht am rückseitigen Ende der Kaverne wieder, sondern an der Stelle, an der er den Zugang hinter der Felswand vermutete. Die Talglichter, die zuvor die Höhle nur schwach erleuchtet hatten, waren verschwunden; an ihrer Stelle fanden sich nun Kristalle, die ein helles, warmes Licht abgaben, dessen Farbe zwischen silbrig und golden wechselte.

Dann stellte er fest, dass seine Hand leer war; Sinyas Amulett, dass er zuvor darin gehalten hatte, war verschwunden. Er war sich sicher, dass er es noch gehalten hatte, als die Blase geplatzt war.

Die Blase… Woher wusste er davon? Er sah sich um; von dem grauen Wabern und den Farbschlieren war nichts zu sehen. Und doch wusste er, dass sie vergangen war, wie ein sprichwörtlich geplatzter Traum.

Er sah auf. In der Mitte der Kaverne war der Stein, auf dem er zuvor das Amulett gefunden hatte. Ihr Amulett…

Wo mochte Sinya sein? Angst erfüllte seine Gedanken, doch er verdrängte sie; doch das Bild seiner Gemahlin blieb in seinem Geist präsent. In seinen Gedanken, seinen Wünschen, war sie bei ihm.

Langsam näherte er sich dem Stein, nach allen Seiten lauschend, die Augen immer in Bewegung. All seine Sinne sagten ihm, dass er nicht alleine wahr. Die Hand fuhr zum Schwertgriff, doch er zog die Klinge nicht. Noch nicht.

Ein Schatten sprang aus der Finsternis heraus in die Mitte des Runds. Mit katzenhafter Behändigkeit bewegte er sich, schien fast zu gleiten, und landete schließlich auf dem Stein.

Wulf sprang einen Schritt zurück. Das Wesen auf dem Fels hatte schwarzes Fell; es faltete ledrige, drachenartige Schwingen zusammen und legte selbige an den Körper. Der Schwanz hingegen war wenig katzenhaft, sondern glänzte chitinschwarz im schwachen Licht; der Giftstachel eines Skorpions.

»So bist Du also erschienen« sagte das Wesen, dessen Kopf annähernd menschlich war, doch auch fuchshafte Züge aufwies. Die dünne Mähne war von einem schmutzigen rotbraun, und unter der Nase standen lange Barthaare ab und wirkten wie Schnurrhaare.

»Erschienen?« fragte Wulf. »Das klingt, als wäre ich erwartet worden.«

»Ja und nein.« Das Wesen schüttelte den Kopf, so dass die dünnen Haare flogen, dann lachte es auf. »Du weißt, wer ich bin?«

»Ich weiß, was Du bist«, erwiderte Wulf; zugleich ließ er den Schwertgriff los.

»Das genügt.« Der Mantikor sprang mit einem Satz vom Steinblock.

»Tut es das? Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, und was das hier für ein Ort ist.«

»Du bist hier, weil Du hier sein wolltest. Du selbst hast Dich hierher geführt. Ist es also nicht an Dir, zu sagen, was Du suchst?« Der Mantikor legte den Kopf schief und sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich suche nichts. Es ist die Neugier, die mich antrieb.«

»Vielleicht suchst Du Dich selbst, ohne es zu wissen? Oder vielleicht wirst Du auch gesucht? Vielleicht bist Du nur ein kleines Steinchen auf dem Spielbrett des Lebens, eine Seele zwischen den Sphären? Ein Stolperstein für einen Giganten, eine lästige Fliege, die eines anderen Kopf umschwirrt? Weißt Du es?«

Während sie sprachen umrundeten sie den Steinblock; Wulf bewegte sich so, dass der Stein zwischen ihm und der Chimäre blieb.

»Der Stein dort, was hat es damit auf sich? Ist es einer der Altäre von Korgond?« Wulf hatte genug von den Fragen, er wollte Antworten. Also drehte er den Spieß um, vielleicht ließ sich ja sogar etwas herausbekommen.

»Ah, Korgond. Ein Ort, von dem ich einst hörte, danach also suchst Du. Glaubst Du, Du hast ihn gefunden? Nein, das glaubst Du nicht. Ist dies hier Korgond? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Und selbst wenn es so wäre, was würde Dir das Wissen nützen?« Der Mantikor sprang auf den Stein; Wulf zuckte zurück.

»Ich weiß es nicht. Alle suchen danach.«

»Und warum?«

»Sie halten es für wichtig. Die Steine…«

Der Mantikor fiel ihm ins Wort. »Pah, Steine, was soll man schon damit. Wenn Du weißt, was Du bist, brauchst Du keine Steine. Oder willst Du Deine Gegner mit neun Steinen bewerfen?« Die Chimäre lachte; es klang nach Brüllen und Fauchen zugleich. »Was Du brauchst, ist etwas anderes. Etwas anderes, das schon einmal von Deinesgleichen geführt wurde, vom selben Blut. Vollende, was andere begonnen, wenn Du darum weißt.«

»Was weiß ich schon, wovon Du sprichst? Sag es mir, wenn ich es wissen sollte.«

»Du weißt um die Neun Streiche«, stellte der Mantikor fest.

Wulf nickte. »Man hat sie mich gelehrt«, erwiderte er.

»Mann? Oder doch eher Frau?« Der Mantikor grinste und entblößte ein mehrreihiges Gebiss.

»Spielt es eine Rolle?«

»Nein, natürlich nicht. Doch bist Du stark genug im Glauben? Bist Du stark genug für den Kampf um das, was Du bist?«

»Ich bin, was ich bin; mein ganzes Leben habe ich darum gekämpft, ich selbst zu sein.«

Der Mantikor schlich um ihn herum, wie Katzen um die Beine schleichen. »Bist Du bereit, das aufzugeben, was Du warst, und bereit, das zu werden, was Dir bestimmt ist?«

Wulf, der sich mit den Bewegungen des ihn umschleichenden Mantikors mitgedreht hatte, verharrte. Sein im Kloster St. Ancilla gegebenes Versprechen kam ihm in den Sinn; er hatte Yacuban von Creutz-Hebenstreyt zugesichert, sich nach den kommenden Schlachten zu offenbaren und in den seiner Weihe gebührenden Stand des Klerus überzutreten. »Ich habe es versprochen.«

»Bist Du willens, das zu tun, was Du tun musst, und gewillt, Dein Zutun als Dein Schicksal zu akzeptieren?«

»Sind unsere Pfade nicht vorgezeichnet? Könnte ich mein Schicksal erkennen und mich dagegen auflehnen, wenn ich darum wüsste? Kannst Du es?«  Der Mantikor sprang zu Seite. »Manchmal ist das Schicksal ein mieser Verräter. Und Du weißt, wie es Verrätern ergeht. Doch wie dem auch sei, dem Schicksal entkommt man nicht; nicht ich, nicht Du, nicht jemand anders; nicht einmal die Götter können ihrem Schicksal entfliehen.«

Der Mantikor sprang auf Wulf zu, richtet sich auf den Hinterbeinen auf; ihr Gesichter waren kaum mehr als zwei Handbreit voneinander entfernt. Wulf roch den Atem der Chimäre, nach Fleisch, nach Blut, nach Tod.

»Bist Du im Stande, die Wahrheit zu sehen? Bist Du auch imstande, sie zu verstehen?« Der Mantikor ließ sich auf alle viere nieder, dann sprang er wieder auf den Stein.

Wulf stutze, wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Der Mantikor machte eine Bewegung mit der Pfote, als wolle er etwas wegwischen. Die glitzern leuchtenden Kristalle lösten sich von den Wänden, und begannen Irrlichtern durch die Kaverne zu schweben, umrundeten ihn, den Mantikor, den Felsblock.

»Siehst Du die Wahrheit?« fragte die Chimäre durch das leuchtende Glitzern. »Oder bist Du geblendet vom Licht der Sterne, von ihrer Schönheit?«

Die leuchtenden Kristalle wurden langsamer, doch sie verharrten nicht. Sie ordneten sich neu; wie eine leuchtende Wand aus Sternen schwebten sie im Raum; sie beschrieben Schleifen und Striche, schneller als das Auge ihnen folgen konnte, und ließen Schriftzeichen aus Licht entstehen. Es dauerte eine Weile, bis Wulf sich an das Flirren gewöhnt hatte, doch dann stand ihm die Sternenschrift klar vor Augen, und die Worte brannten sich in seinen Geist.

Neun werden die Streiche führen,
Wenn sich wandelt die Verderbnis zum Gegenteil,
Die List der Vielgestaltigen Bande bricht.
Denn das Blut des Wahrhaften ist Wehr und Waffe zugleich,
Wo aus den Höllen sucht heim der Vergangenheit Finsternis.
Was neunfach vereint kann die Finsternis besiegen,
Wenn Geeintes Blut aus dem Dunkel streichend,
Unter dem nächtlichen Schatten die Schrecken begräbt,
Das finale Opfer die Seelen erlöst.

»Was bedeutet das?« murmelte Wulf, mehr zu sich selbst.

»Das musst Du schon selber herausfinden – und glaube mir, Du wirst es auch!«

Die Schrift verblasste, Dunkelheit fiel zurück in den Raum; der Mantikor verschmolz mit den Schatten.

Die Blase zerplatze erneut.

4 — Das Sternenrätsel

Sie fühlte sich in den Raum hineingestoßen, und als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten erkannte sie die Kaverne. Ein schwachen Lichtschein von Gwen-Petryl-Steinen ließ sie kaum mehr als Schemen erkennen. Suchend blickte sich Sinya um, drehte sich an Ort und Stelle einmal langsam um die eigene Achse und stellte fest, dass sie sich wieder am Zugang der Höhle befand, doch die Pforte war immer noch verschwunden.

Langsam näherte sich der Mitte der Kaverne; mit kleinen Schritten, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend.

Ein schwaches Funkeln ließ sie innehalten. Sie sah nach unten und erkannte einen kleinen Kristall; sie hockte sich hin, betrachte den im kalten Licht der Efferdsteine kaum funkelnden Edelstein und hob ihn schließlich auf.

Kaum dass sie den Kristall berührte schoss ein Bild durch ihren Geist; eine Wand von Sternen, die vom Himmel fiel und klirrend auf den Steinboden der Kaverne stürzte. Wann immer einer der Sterne den Boden berührte gab er ein glockenhelles Klingen von sich. Dann verblasste die Eingebung.

In der Hocke bewegte sie sich vorwärts, dabei sammelte sie alle Kristalle ein, die sie fand; bald waren es so viele, dass sie ihren Umhang schürzte und die Kristalle hineinsammelte.

»Die Sterne sind vergangen, sie leuchten nicht mehr in der Nacht. Wer sie vereint, der findet Macht.« Die Stimme aus dem Nichts, von überall zugleich wisperte durch den Raum.

Sinya erhob sich; suchend sah sie sich um, doch sie fand niemanden. Das fahle Licht der Gwen-Petryl-Steine erinnerte sie an Mondenschein, doch das Bild, dieser Gedanke sie in ihrem Geist weckte war unvollständig. Etwas fehlte.

Ihr kam ein Gedanke. Sie ergriff einige der Steine und begann, sie auf dem Boden auszulegen. Einer hier, ein weiterer dort, ab und an rückte sie einen Stein um eine Winzigkeit weiter. Ein Bild entstand, mehr vor ihrem Inneren Auge als in Wirklichkeit. Als sie fertig war begannen die Kristalle des Motivs schwach zu leuchten; es war das Sternbild des Fuchses. Und sie verstand.

-

Stück für Stück legte sie aus den Kristallen den Nachthimmel auf dem Boden aus, und wann immer sie ein Sternbild fertig gestellt hatte, beganne die zugehörigen Kristalle schwach zu leuchten. Schließlich hatte sie die Aufgabe vollbracht; die Anzahl der Kristalle war genau aufgegangen, doch nichts geschah. Hatte sie einen Fehler gemacht? Stück für Stück besah sie ihr Werk, dann stutzte sie. Der Kristall, der das Auge des Drachen bildete strahlte nicht, sondern blieb dunkel.

Sie bückte sich und griff nach dem Stein. Als sie den Kristall an sich genommen hatte, blitzen die Sternbilder hell auf. Geblendet schloss sie die Augen, und mit einem Mahl fühlte sie sich unendlich frei, als würde sie schweben.

Die Blase verging erneut.

5 — Der Fall

Er trat ein weiteres Mal in die Kaverne. Noch bevor er sich umdrehte wusste er, dass der Eingang verschlossen sein würde, dennoch warf er eine Blick über die Schulter. Entschlossen trat er vor.

Der Mantikor stand am Felsblock, die Vorderbeine auf den Stein gestützt; er wirkte gelangweilt.

»Es ist doch immer wieder das gleiche. Die Zeit verrinnt, die Jahre gehen dahin, die Äonen fliehen vorbei.«

»Und was tust Du?«

Der Mantikor lachte. »Ich warte.«

»Warten? Worauf?«

»Darauf, das Dinge geschehen. Dinge, die Dein Geist nicht begreifen könnte, selbst wenn Du ihrer ansichtig würdest.«

»Das kannst Du nicht wissen.«

»Oh doch, dass kann ich. Ihr derischen Wesen wollt so klug sein, doch seid ihr nicht einmal in der Lage, Euch selbst zu erkennen. Ihr streitet um die Vorherrschaft, und doch ist es Euch vorherbestimmt, einst unterzugehen, ganz gleich, ob ihr Fell, Schuppen oder spitze Ohren habt – oder auch nicht.«

»Aber Du, Du glaubt, alles zu wissen? Über uns Menschen, über die Elfen, die Schwarzpelze?«

»Menschen, Elfen, Orks, Trolle, was spielt das schon für eine Rolle? Selbst die Zwerge sind aus anderem Stein geschlagen; das Land ist älter, als sie sagen. Oh, das reimt sich, und was sich reimt ist gut – oder vielmehr wahr. Du kennst das Zusammenspiel zwischen Blut und Land, zwischen Macht und Stein, zwischen Herrschaft und Verantwortung, Dienst und Pflicht?«

Wulf nickte, erinnerte sich an lange zurückliegende Zeiten. Der Greifenstein im Hof der heimatlichen Burg trat vor sein inneres Auge. Der Bund, besiegelt mit seinem Blut…

»Du weißt, was Deine Pflichten sind? Oder muss man Dich dran gemahnen? Du schreitest eine Pfad dahin, der auf zwei Seiten eines Abgrunds entlangführt.«

Vor ihm, unter ihm öffnete sich der Steinboden; ein dunkler Riss, breiter und breiter werdend, tat sich auf. Wulf drohte das Gleichgewicht zu verlieren; er sprang beiseite und kam am Rand des Abgrunds zum Stehen. Keuchend rang er nach Atem.

»Der Abgrund wird breiter. Du wirst nicht mehr lange zwischen beiden Seiten hin- und herspringen können, wie es Dir beliebt. Es wird der Tag kommen, an dem Du Dich für eine Seite entscheiden musst. Kannst Du das? Willst Du es auch?« Der Mantikor sah ihn an, doch Wulf schwieg, unschlüssig.

»Du wirst lernen müssen, dass nichts mehr sein wird, wie es war. Nach dem Aufstieg kommt der Fall.«

Wulf fühlte ein Schlag auf den Rücken, wie von einer Keule; der Skorpionstachel des Mantikors hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Er stolperte, nach vorne, über den Abgrund.

Er fühlte, spürte, wie er fiel.

Wieder zerplatze die Blase.

6 — Die Prophezeiung der Sterne

Sie trat aus dem Nebel – und fand sich in der Kaverne wieder. Tief im Inneren hatte sie bereits damit gerechnet, und so nahm sie es hin. Suchend sah sie sich um, doch sie war allein; die Höhle war leer. Sie stand am Rand, und so machte sie vorsichtig einen Schritt vorwärts.

Etwas tropfte von der Höhlendecke. Sie hörte es, dann spürte sie etwas Feuchtes in ihrem Gesicht. Mit der Linken wischte sie es fort; als sie auf ihre Finger blickte stellte sie fest, dass es Blut war.

Sie verharrte, dann trat sie einen Schritt zurück. Überall fielen nun Tropfen von der Decke und bildeten rote Rinnsale auf dem Boden. Sie flossen ineinander, bildeten verschlungene Zeichen, und veränderten sich wieder. Vorsichtig trat Sinya vor, näherte sich dem Blut, dass sich Schriftzeilen gleich um den Felsblock herum bewegte, und besah sich die Zeihen genauer. Es war eine Schrift, fließend, aus Blut. Sie versuchte, die Worte zu entziffern, doch die Bewegung war zu schnell. Also hockte sie sich hin, konzentrierte sich auf einzelnen Worte, und nach und nach bildeteten sich Sätze in ihrem Geist, die sie wieder und wieder rezitierte, bis sie sicher war, den Text verinnerlicht zu haben, der sich immer und immer wiederholte:

Wenn auf Fuchspfaden schreitet der Mantikor,
zu schützen was glänzt im Mondenlicht,
Seine Fährte führe auf Deiner Spur, bevor Du selbst sie gegangen.
Denn der Pfad der Sterne weist den Weg in das Innerste,
Wenn aus den Höllen sucht heim der Vergangenheit Finsternis.
Was geeint im Herzen kann die Finsternis besiegen,
Wenn Geeintes Blut aus den Nebeln schreitend,
Unter dem nächtlichen Schatten die Schrecken begräbt,
Das finale Opfer die Seelen erlöst.

Schweigend erhob sie sich; ihr war heiß und kalt zugleich.

»Hast Du verstanden?« wisperte die Stimme aus dem Nichts.

Sie nickte. Die Zeichen aus Blut verschwammen, lösten sich auf und versickerten im Boden.

Wieder verging die Blase.

7 — Der Gute Kampf

Der erwartete Aufprall blieb aus. Stattdessen spürte er mit einem Mal wieder den Boden unter den Füßen und stellte fest, dass er stand. Er öffnete die Augen – obwohl er sich nicht erinnern konnte, sie geschlossen zu haben – und fand sich erneut in der Kaverne wieder.

Der Mantikor saß auf seinen Hinterbeinen neben dem Felsblock. Sein Skorpionschwanz bewegte sich hin und her, die der Schwanz eines Hundes. Die Zunge leckte über die Lippen, dann öffnete er das Maul zu einem leichten Grinsen; die Zähne waren blutig.

»Wie ich sehe, bist Du wieder da. Hast Du auch das also verkraftet.«

Wulf schwieg. Was sollte er auch antworten?

»Du schweigst. Hast Du nichts zu sagen? Hast Du Dich entschieden? Oder willst Du weiter auf schmalem Grat wandern, bis Du fällst? WAS bist Du?« Die letzten Worte klangen einem Donnerhall gleich durch die Kaverne.

Wulf fiel auf das Knie; er zog sein Schwert, umfasste mit der linken Hand die Klinge und drückte zu, bis Blut an der Schneide hinabrann. »Ich bin ein Diener des Herrn, Gefolgsmann des Herrn der Schlachten, der lachend durch die Reihen der Heerscharen schreitet und blutige Ernte hält unter jenen, die eines Guten Kampfes nicht würdig sind.«

»Und hast Du jemals einen Guten Kampf gekämpft?« Der Mantikor warf den Kopf zurück, er bleckte die Zähne.

»Nein.«

»Dann ist es an der Zeit, dass Du Dich als würdig erweist.« Mit einem Satz sprang die Chimäre herbei und landete dort, wo Wulf noch einen Augenblick zuvor gekniet hatte. Geistesgegenwärtig hatte er sich jedoch zur Seite geworfen, schnellte aus dem Stand wieder hoch und beschreib dabei mit der Klinge einen Bogen; das Schwert verursachte einen tiefen Schnitt in der ausgebreiteten Drachenschwinge. Den heranrasenden Skorpionschwanz nahm er nur aus den Augenwinkeln war; er ließ sich fallen, rollte sich ab, doch kaum dass er stand traf ihn einen der Schwingen und warf ihn Boden. Der Sturz presste ihm die Luft aus den Lungen, dennoch stemmte er sich hoch.

Der Mantikor fuhr herum; Wulf parierte den Hieb der Klaue mit der Klinge; der Stahl fuhr tief zwischen die Krallen. Den Schlag der anderer Klaue der Chimäre bemerkte er jedoch erst, als die Krallen in sein Bein fuhren. Er sprang zurück, holte aus, versuchte Hieb um Hieb, Stich um Stich zu setzen. Der Mantikor brachte ihm zwei weitere Treffer bei, bevor er selber eine erfolgreiche Attacke vollbringen konnte.

Ausweichen, parieren, zurückspringen, zuschlagen – die Abfolge der Angriffe wirkte wie ein skurriler Reigen, ein Tanz auf Leben und Tod. Er landete Treffer, doch musste er auch selber welche einstecken; im Geiste versuchte er mitzuzählen, denn er ahnte, dass der neunte Hieb den Todesstoß bedeuten sollte.

Irgendwann war er bei acht. Acht erfolgreichen Hieben für ihn, sieben Treffer hatte er einstecken müssen. Nun ging es um alles. Ein weiterer Treffer, der es entscheiden musste, ein erfolgreicher Angriff…

Der Gedanke hatte ihn abgelenkt. Der Mantikor fuhr fauchend herum, eine der Drachenschwingen schmetterte ihn zu Boden. Das Schwert entglitt seinen Händen, rutsche klirrend über den Stein.

Der Mantikor lachte hämisch. »Dein erster Guter Kampf, und wie mir scheint, wird es auch Dein Letzter sein.« Die Chimäre breitete die Schwingen aus, setzte zum Sprung an, einem drohenden Schatten gleich glitt sie heran, bereit, sein Ende einzuläuten.

»Tu es jetzt.« Eine Stimme – Sinyas Stimme – klang wie ein sternenhelles Lachen in ihm. Blitzschnell schnellte er unter dem Leib seines Gegners hindurch; mit kratzendem Geräusch landeten die scharfen Klauen auf dem Stein.

Er sprang auf, stürzte sich mit einem übermenschlichen Satz auf die Chimäre und riss deren Kopf nach hinten, bis es knackte. Mit gebrochenem Genick sackte der Mantikor zusammen und erschlaffte.

Wulf ließ sich schwer atmend fallen. Der Kampf war vorüber. Doch war er rechtens gewesen? War nicht der Mantikor ein heiliges Wesen seines Gottes? Oder war dieses Wesen der Verderbnis entsprungen, mit seinen Schwingen und dem Fuchsgesicht? Er wusste es nicht.

Vorsichtig setzt er sich auf; jetzt, da der Kampf vorüber war, spürte er den Schmerz in jeder Faser seines Körpers. Im Geiste zählte er nach; acht Streiche mit dem Schwert hatte er dem Wesen beigebracht, und es dann nur mit seinen Händen getötet. Neun also. Dennoch zog er den Dolch, ritzte die Handfläche und ließ die neun Blutstropfen auf den Boden fallen, wie Jessa es ihn gelehrt hatte.

Und als der letzte Tropfen den Boden berührte zerplatze die Blase.

8 — Die Falsche Schlange

Sie erwachte, wie aus tiefem Schlaf. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wo sie sich befand, und ebenso wenig suchte sie nach der Pforte im Stein, von der sie wusste, dass sie nicht zu finden war. Sie fühlte sich benommen, wie an einem Morgen nach zu viel süßem Wein; ihr Blick war trüb; sie blinzelte, als sie die Augen öffnete.

Die Kaverne war in angenehmes, helles Licht getaucht. Fackeln warfen flackerndes Licht in des Rund, und von der Decke herab strahlte ein Abbild des Sternenhimmels silbriges Licht in den Raum. Mühsam richtete sie sich auf – und erschrak. Ein pelziges Gesicht tauchte vor ihr auf, so dass sich die Nasenspitzen fast berührten. Sie zuckte zurück, krabbelte einige Handbreit rückwärts; dann hielt sie inne.

Vor ihr hockte ein Mungo; zumindest hielt das Tier, das nun vor ihr auf den Hinterbeinen hockte für einen solchen. Gesehen hatte sie in ihrem Leben noch keinen, doch sie kannte Bilder aus dem alten Buch ihrer Familie und wusste daher, dass der Mungo in anderen Landen als heiliges Tier des Nächtlichen galt, so wie man in den Mittellanden den Fuchs als Phexens Tier ansah.

»Hier, trink noch den letzen Schluck, dann wird es Dir besser gehen.« Der Mungo hielt ihr eine Phiole entgegen; in dem gläsernen Röhrchen schwappte der Rest einer klaren blauen Flüssigkeit.

»Was ist das?« fragte sie.

Der Mungo lächelte; zumindest wirkte es so. »Ein Antidot. Es hat Dich gerettet, denke ich. Das, was fehlt, habe ich Dir bereits eingeflößt; wer weiß, ob Du sonst noch währest.«

»Ein Antidot? Warum?« Sie verstand nicht.

»Ein Antidot eben. Gegen das Gift. Erinnerst Du Dich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann nimm und trink.« Der Mungo streckte ihr die Pfoten entgegen, mit denen er noch immer die Phiole hielt.

Sie ergriff das Röhrchen, betrachtete es kurz und schüttelte den Kopf. Dann setzte sie es an die Lippen und trank; die Flüssigkeit schmeckte bitter, sie schüttelte sich. »Bah., ekelhaft.«

»Aber es hilft. Ohne das Antidot währest Du gestorben. Doch es sollte nicht sein.«

Sie setzte sich auf. »Erzähle mir, was geschehen ist. Bitte.«

Der Mungo wiegte den Kopf. »Nun, wenn Du Dich wirklich nicht erinnerst… Die Schlange hat Dich gebissen, gleich, als Du angekommen bist. Du hast sie wohl nicht gesehen. Das Gift drang in Dich ein, und Du bist umgefallen, einfach so.«

»Und die Schlange? Wo ist sie jetzt?« Sie mochte Schlangen nicht und fürchtete, es könnte erneut geschehen, was ihr gerade widerfahren war.

»Weg. Sie hat sich verkrochen. Wie sie es immer tut.«

»Wie sie es immer tut?«

»Ja, wie immer. Sie verkriecht sich in Löchern und Ritzen, wenn sie ihr Gift verspritzt hat, bevor das Spiel von Neuem beginnt.« Der Mungo redete, als sei das, wovon er sprach, das natürlichste der Welt.

»Ein Spiel… Ihr spielt ein Spiel?«

»Wenn Du es so nennen willst. Ein ewiges Spiel auf Leben und Tod, jeden Tag aufs Neue. Vielgestaltig ist die Finsternis, und nur List und Glück können sie besiegen.«

»List und Glück…«

»Ja. Komm mit.« Damit drehte er sich um und sprang von dannen, bis er den Steinblock erreichte. Mit einem Satz landete er auf dessen Oberfläche.

Sinya stemmte sich in die Höhe, die leere Phiole noch in der Hand. Dann folgte sie dem Mungo mit langsamen Schritten.

-

Als sie am Felsblock angelangt war reichte die dem Mungo die Phiole. »Danke«, sagte sie.

»Oh, da nicht für«, erwiderte das Tier, legte die Phiole auf den Stein, wo diese verblasste. »Ich habe nur getan, was ich tun musste. Das Leben ist ein Rinnsal, die Welt ein Fluss. Es war nur ein Tropfen im Strudel der Sphären. Leben ist Veränderung, weißt Du? Und auch die Sphären verändern sich, ebenso wie wir. Nicht einmal die Götter können etwas an ihrem Schicksal ändern.«

Sie schwieg und ließ ihren Blick schweifen. Schließlich verharrten ihre Augen an der Höhlendecke, wo die Sternbilder leuchteten. »Selbst der Himmel verändert sich. Ist es das, was Du meinst?«

»Der Drache blind, das Schwert wird stumpf, Feuriger Stern macht Wasser zu Sumpf.« Er kicherte. »Ein Reim, schnell dahingeschüttelt. Die Welt, aufgerüttelt.«

»Du sprichst in Rätseln.«

»Tue ich das? Öffne die Augen, und Du wirst sehen. Öffne die Ohren, um zu verstehen. Du bist nicht allein.« Er lauschte. »Wir hier im übrigens auch nicht mehr. Damit sprang er vom Stein.

-

Sinya hörte das Zischeln; erst leise, dann immer lauter werdend drang es an ihr Ohr. Schwarze Schatten huschten den Säulengang am äußeren Rand der Kaverne entlang, wurden dichter und dichter. Das Zischeln wurde immer lauter, und es kam von überall zugleich. Dann begannen die Schatten zu verschmelzen, auch das Zischeln kam nicht mehr von überall, sondern konzentrierte ich auf den Punkt, an dem die Schatten sich verbanden und mehr und mehr Gestalt annahmen.

Dann war es vorbei. Die Schatten verblassten und gaben den Blick frei auf eine armdicke, etwa einen Schritt lange Schlange; ihre schwarzen Schuppen glänzten feucht. Zischend schlängelte sie sich in die Mitte des Rondells; Sinya wich instinktiv einen Schritt zurück.

»Da issst ja der Sssternendieb«, zischelte die Schlange. Sie verharrte, richtete kobragleich den Kopf auf und starrte Sinya und den Mungo aus gelben Augen an. »Gib esss zssurück; esss gehört nicht Dir.«

»Das hast Du nicht zu entscheiden.« Der Mungo sprang zwischen Sinya und die Schlange.

»Wer sssagt dasss? Du? Du weißsst ja nicht einmal, wasss Veränderung ist. Vielleicht sssolltessst Du esss lernen, um zu verssstehen.« Sie stieß mit dem Kopf vor, doch der Mungo wich ihr geschickt aus.

»Versssuche esss erssst gar nicht. Für heute hassst Du einmal gewonnen, esss kann kein zssweitesss Mal geben. Dasss weißsst Du auch!«

»Wissen ist Macht«, ätzte der Mungo, »und Du weißt nichts.« Dabei sprang er über den Schlangenkopf hinweg, um zuzubeißen, doch die Schlange rollte sich zur Seite. Dabei veränderte sie sich; zuerst erschienen rote Muster auf ihrer schwarzen Haut, dann färbte sich das Schwarz nachtblau.

»Wissssen issst Veränderung. Du veränderssst nichtsss.« Wieder stieß der Schlangenkopf in Richtung des Mungos; dieser machte einen Satz rückwärts. Die Schlange verblasste, ihre Haut wurde nahezu durchsichtig, so dass man ihr Inneres sehen konnte; dann wurden die Schuppen weiß und graue Muster, Schriftzeichen ähnlich, zeigten sich darauf. »Und nun gib Du zssurück, wasss Du gessstohlen hassst!« Drohend wandte sie sich Sinya zu, dann verdoppelte sie innerhalb weniger Augenblicke ihre Länge und Dicke; an ihrem Schwanzende bildeten sich die Ringe einen Klapperschlangenschwanzes.

»Ich habe nichts gestohlen!« Sinya wich einem Angriff der Schlange aus; dabei zog sie Rapier und Parierdolch.

»Doch. Du bissst eine Diebin, und wasss Du nun hassst, issst nicht Dein, sssondern unssser. Gib esss zssurück, oder Du wirssst sssterben! Die Ssspur der Sssterne issst unssser Geheimnisss, und Du Fuchsssssschatten hassst esss gessstohlen!« Wieder schnellte sie vor; Sinya wich zur Seite aus, führte zwei, drei schnelle Stiche aus, jedoch ohne zu treffen. Dann war der Mungo zur Stelle, doch die Schlang ließ den Kopf fallen, so dass er über sie hinwegsprang, ohne sie berühren zu können.

Ein erneuter Vorstoß der Schlange, eine Parade, ein Hieb mit der Klinge; ausweichen, vorstoßen, zurückspringen. Mal ein Treffen, dann wieder nicht. Auch der Mungo wurde nicht müde, hüpfte mal hierhin, mal dorthin, traf jedoch nicht. Sinyas Atem ging schnell; sie fühlte Schwere und Müdigkeit in ihren Gliedern; eine Wirkung des Giftes? Sie stolperte ein paar Schritte rückwärts, während der Mungo in die Lücke sprang, als wolle er sie schützen.

Die Schlange veränderte sich erneut. Erst wuchs sie in den Länge, dann wechselte sie ihre Farbe, schließlich wuchsen ihr kurze Beine; erst vier, dann acht, dann sechzehn. Nach einem weiteren Farbwechsel – der Kopf wurde rot, der übrige Körper schillerte in Streifen von grün, gelb und blau – häutete sie sich und war wieder nur einen Schlange, doch anstatt des Schwanzes trug sie nun an ihrem Ende den Kopf einer Natter, während sich an ihrem Anfang drohend der Kopf einer Kobra aufrichtete. Der Mungo war währenddessen unablässig in der Kaverne umhergesprungen, während die Schlange ihm folgte, und hatte nahezu spielerisch versucht, sie zu fangen, doch ohne Erfolg.

Sinya hingegen war der Kreatur ausgewichen, wann immer sich der Schlangenkopf in ihre Richtung bewegt hatte. Nun war es wieder so weit. Der Kobrakopf schnellte vor, sie sprang zurück, doch die giftigen Zähne zuckten bereits wieder in ihre Richtung. Der Mungo aber war zur Stelle, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet, und schlug die Zähne in den Schlangenhals. Der Kobrakopf ruckte zurück, erschlaffte und fiel zu Boden.

Triumphierend erhob sich der Mungo auf die Hinterbeine und bleckte die Zähne; dann jedoch zuckte er unversehens zusammen. Der Natternkopf hatte sich in seinem Nacken verbissen.

»Jetzt, der letzte Streich«, klang die vertraute Stimme Wulfs ; sie hatten dasin ihrem Geist, in ihrem Herzen. Sinya schnellte mit mit einer fließenden Bewegung vor; ihr Rapier durchtrennte den Schlangenleib kurz hinter dem Kopf, doch die Klinge traf auch den Mungo. Während die Schlange vollends erschlaffte rannen Fäden von Blut vom Rücken über das Fell des Mungos, doch jener schien die Verletzung nicht zu spüren.

»Zu spät«, sagte der Mungo grinsend. »Das Gift war bereits in mir.«

»Das Gift? Es war eine Natter…« Sinya war verwirrt.

»Manche Schlangen sind falsch«, erwiderte der Mungo. »Du wirst es erkennen, wenn es soweit ist. Manchmal muss man Opfer bringen, bevor es zu spät ist; lerne daraus.« Damit sackte er zusammen.

Und die Blase verging.

9 —Vereint

Dieses Mal waren sie nicht allein. Sie spürten es, bevor die Finsternis wich, bevor ihre Augen einander ansichtig wurden. Es reichten die Blicke, die sie einander zuwarfen, um zu wissen, dass sie unverletzt waren. Sie nickten sich zu, dann näherten sie sich mit langsamen Schritten dem Fels in der Mitte der Kaverne.

Ein Licht huschte aus den Schatten auf sie zu. Es kam aus der Richtung in der Wulf das Kloster vermutete. Einem Irrlicht gleich zog es in verwirrenden Bahnen eine leuchtende Spur durch die Kaverne, dabei wuchs es, bis es etwas über Kopfgröße angewachsen wurde, und auch das Strahlen nahm zu. Es strahlte, gleißte, doch ohne zu blenden, und dennoch reichte es nicht aus, die ganze Kaverne zu erleuchten, die die Ränder blieben im schummerigen Dunkel. Schließlich verharrte es schräg über dem Stein, ungefähr in der Richtung, aus der es gekommen war.

»Ihr seid eins«, wisperte das Licht. »Ihr wart dies immer, ihr solltet es werden, und ihr werdet es ein.«

Wulf und Sinya sahen sich an, dann das Licht.

»Alles, was noch fehlt, ist der Beweis«, klang es einer Melodie gleich in ihren Ohren.

»Der Beweis, der Beweis« murmelte Wulf. Er blickte zu dem Licht, zu Sinya, zu Boden.

»Wird sind eins«, murmelte Sinya. »Vereint.«

Ihr letztes Wort ließ Wulf aufhorchen. Dann nickte er, verstehend. Er öffnete die Hand, zeigte die Schnittwunde in der Handfläche. Nun war es Sinya, die nickte; sie griff zum Gürtel und umfasste den Griff ihres Dolches.

Wulf zog seinen Dolch ebenfalls. Sie taten den letzten Schritt auf den Stein zu, dann setzten sie die Klingen an ihre Handflächen. Doch noch bevor sie einen Schnitt vollziehen konnten huschte das Licht zwischen Ihnen hindurch.

»EINS!« donnerte es durch die Kaverne und ließ sie zusammenzucken.

Sinya streckte Wulf ihre Linke entgegen; ein Wimpernschlag reichte ihm, um sie zu verstehen. Also tat er es ihr gleich, dann setzte er seine Klinge an ihrer Hand an, ebenso wie sie es bei ihm tat. Neun Tropfen fielen von jeder Hand hinab, platzen auf dem Stein und vermengten sich dort zu einer einzigen, kleinen Lache.

»Geht, zu zweit, auf dem Euch bestimmten Weg«, sagte das Licht; dann wurde es von der Dunkelheit verschlungen.

Und die Blase zerplatze erneut, verging ein weiteres Mal.