Geschichten:Mich seht ihr nicht - Fragt nicht wer oder wo, fragt wann

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Hotel „Vier Eichen“ zu Vierok, 10. Firun 1038 BF

Turda Fuxfell betrachtete die Dokumente, die Quendan von Ahrenstedt ausgebreitet hatte. Sie lagen verstreut neben einer Karte Perricums, dir wiederum mit Kerzenständern und Weinpokalen daran gehindert wurde, sich auf dem Tisch zusammenzurollen, als wäre das eine Strategie, der Invasion eines Feindes zu entgehen. Turdas Blick glitt über die Karte bis auf den Hinterkopf Horulfs von Luring, der sich mit einem spannbreiten Vergrößerungsglas über die Karte gebeugt hatte und die feinen Linien der Zeichnung zu entziffern versuchte.

›Er ist schon arg kahl‹, dachte Turda, als ihr Blick den fahlen Buckeln auf der bleichen Kopfhaut des Cantzlers folgte. Trotz seines Alters hatte er mehrheitlich dunkles Haar, das die Platte auf dem Scheitel wie eine abgewetzte Stelle auf einem alten Fell umgab. ›Schön ist das nicht.‹

»Bingo! Wie meine Schlunder Freunde sagen würden!«, rief Luring und ließ sich zurück auf seinen Stuhl sinken, einen Finger auf die Karte gestreckt. »An dieser Flussbiegeung muss das Lager sein, von dem der Verräter gesprochen hat.«

»Gute Arbeit«, ließ sich Turda zu einem Kompliment hinreißen. Quendan nahm es mit einem unangenehmen Grinsen entgegen.

»Danke. Der Mann ist ein Krämer – er würde nicht nur seine Tante für Gold verkaufen, er hat es getan. Wobei – verdenken kann man es ihm nicht, unter diesen Umständen.« Quendan grinste noch breiter. Turda befürchtete, dass hinter diesem Grinsen weitere Enthüllungen über miese Winkelzüge, fiese Tricks und unnötige Gewalttaten stecken würden. Sie ermunterte den Krieger mit keiner Geste, den letzten Satz erklären; aber einer Ermunterung bedurfte es nicht. Quendan hob an:

»Stell dir vor, Drossel … schon gut, nur er darf dich so nennen. Als: Stell dir vor, Turda, ein Meisterspion heftet sich für eine Woche an deine Fersen und kundschaftet alles aus, was du tust, schaut dir bei allem über die Schulter, was du liest und schriebst. Folgt dir überall hin, auf Schritt und Tritt. Und du kannst ihn nicht bemerken, denn der Spion wirft keinen Schatten!«

»Ein Anhänger des Namenlosen?«

»Ei, wohin denn! Unser Spion ist kein Frömmler; nie gewesen – und auch keiner, der sich einem Gott verschreibt, der nicht einmal einen Namen hat«, kicherte Quendan. »Nein, es ist viel einfacher! Der Mann ist unsichtbar!«

»Ein Magier?«, hakte Turda gereizt nach, die das Gefühl hatte, vorgeführt zu werden.

»Nein. Aber vielleicht ist er es gewesen oder wird es sein – irgendwann!« Quendan bekam einen Lachkrampf, der alsbald in ein röchelndes Husten überging, das die kräftigen Schultern des Hünen durchschüttelte.

Turda blickte ihren Cantzler fragend an. der erwiderte: »Ahrenstedt tut so, als hätte er das alles herausgefunden, dabei beruhen die meisten Erkenntnisse auf dem , was Plenkner und Fridega haben zusammentragen können: Plenkner hat die Erkenntnisse aus dem Kloster Perainenfried und von der Königsgauer Pfalzgräfin, Fridega hat den Sertiser befragt. Den alten Sertiser, auf seinem Weg in eine… bessere Zukunft. Und einen gewissen Gerheim, der in einem Kerker ganz ohne Zukunft sitzt«

Turda hob eine Augenbraue, Quendan war wieder zu Atem gekommen und ließ Luring ausreden: »Wir wissen nicht genau, wer hinter diesem unsichtbaren Spion steht, aber es steht außer Frage, dass er in engen Zusammenhängen mit den Ereignissen steht, die anno 32 auf der Pfalz Kayserley stattgefunden haben. Damals war Prinz Storko eine Zeit … verschwunden. Und anwesende Adlige haben erstaunlich wirres Zeug darüber verloren, was ihnen dort passiert ist – es ging da um Zeit…sprünge. oder so. Man muss das nicht verstehen. Fakt ist: Unser Spion ist seitdem nicht mehr sichtbar. Gerheim und Plenkner haben unabhängig voneinander eine Theorie darüber entwickelt, die man dialektischen Durchfall bezeichnen kann, wie ich finde: Danach ist der Verursacher des ganzen Schlamassels um Storkos Verschwinden weiland mit einer Heftigkeit vom versammelten Adel angegriffen worden, als er – ich zitiere – ›aus der Zeit trat‹, das ein Teil von ihm zurückgeworfen wurde (wohin auch immer), ein anderer hingegen im Hier und Jetzt verblieb. Und starb. Respektive tot war. Soll heißen: nur die Hülle. Ach, sei’s drum: Der Unsichtbare ist eben nicht sichtbar. Punkt.«

Turda klappte den Mund wieder zu. Sie konnte sich nicht erinnern, den Cantzler jemals derartig konfuses Zeug reden gehört zu haben. Sie räusperte sich: »Und was will er jetzt, dieser ›Verursacher‹?«

»Er will an das Auge des Morgens, das aber für ihn zu stark gesichert ist, und er will Generalpardon«, antwortete Luring. »Mit dem Schwarzen Auge glaubt er … ach, egal. Ich weiß es nicht. Quendan?«

»Er ist später in Haffax‘ Lager gelandet. hat für den Marschall spioniert. Hat gehofft, dort groß rauskommen zu können. Aber dazu … kicher … muss man schon sichtbar sein. Jedenfalls hat Haffax ihn benutzt: Der Unsichtbare wusste eine ganze Menge über das Kaiserhaus und über den Hochadel des Reiches. Schreibt er jedenfalls. Und als Haffax egal war, was der Spion noch herausbekommen könnte, hat er ihm, wohl die Aufnahme ins Eterniumkorps verweigert. Na ja, und jetzt will er es Haffax heimzahlen und sich bei den Gareths wieder einschmeicheln.« Quendan holte Luft.

»Moment«, warf Turda ein, »Ihr sagtet gerade: ›schrieb er‹. Was hat er geschrieben und an wen? Und woher wisst Ihr das alles? habt Ihr ihn schon gesehen?«

Quendan brach in ein brüllendes Gelächter aus. »Gesehen? Der ist gut!« Nach einigem Husten fing Quendan sich wieder: »Er hat geschrieben, in der Tat, an Prinz Storko als Oberhaupt des Hauses Gareth. Und der Prinz hat Seine Exzellenz ins Vertrauen gezogen. Der Unsichtbare ist ein Pragmatiker durch und durch und ziemlich frei von den Fesseln der Göttergefälligkeit. Außerdem biedert er sich bei den Gareths an, dass es seine Art hat. Ein hundertfünfzigprozentiger Monarchist, könnte man sagen. Und diesen habe ich den Unsichtbaren getroffen – gruselige Sache, das! War in Perricum, der Stadt, und der Unsichtbare wusste immer schon einen Augenblick, bevor ich zu Ende gesprochen hatte, was ich sagen wollte. Er meinte, er sei gerade in der Zeit ›verschoben‹.»

»Und was kann er konkret anbieten?«

»Das ist meine Drossel, sehr gut«, lobte Luring und schaltete sich wieder in das Gespräch ein. »Der Unsichtbare bietet uns Interna aus dem Hauptquartier Haffax‘ – soweit er sie kennt. Außerdem Interna aus dem Kaiserhaus – woher auch immer er sie hat. Ich will sie wissen. Und er liefert uns ganz konkret Verbündete des Marschalls, die in Perricum Waffen in Empfang nehmen, um für die Zeit von Haffax‘ Sieg bei Mendena und seinen Heerzug gen Westen in der Provinz entweder für Unruhe zu sorgen oder gar die Macht zu übernehmen. Angeblich. Schlüsselfigur in diesem Spiel ist der Sohn des Reichsverräters Jellinor Tremal von Kollberg, ein gewisser Terrebor von Kollberg. Den liefert uns der Unsichtbare. Und wenn wir Kollberg haben, dann bekommen wir auch weitere Hintermänner und Gefolgsleute Haffax‘, die im Verborgenen lauern.«

»Klingt nicht einfach. Soll ich …?«, fragte Turda, doch Luring unterbrach sie:

»Nein, Quendan reitet zurück nach Perricum und wird dort Hilfe ersuchen, Ich habe bei Seiner kaiserlichen Hoheit, dem Gemahl der Kaiserin, markgräflichen Permiss, geeignete Perricumer zu requirieren. Die Wahl hierfür ist einfach: Einerseits wird Quendan die Baronin von Gnitzenkuhl zum Tanz auffordern. Sie wird mitmachen, denn die Kolbergs haben immerhin ihren Vater auf dem Gewissen. Und andererseits befinden sich auch in Perricum Persönlichkeiten, denen die Krone vertraut und die letztes Jahr auf Perlenblick waren, namentlich …«, Luring griff nach einem der umherliegenden Dokumente, »…namentlich Wallbrord von Löwenhaupt-Berg, Selo von Pfiffenstock, Lyn von Haselhain und Bishdaryan von Tikalen

»Aufbruch gen Perricum, sobald Fridega mit den Abschriften fertig ist«, lächelte Quendan, und reinigte die Fingernägel der einen mit jenen der anderen Hand.