Geschichten:Der Ruf des Einhorns - Worte gegen die Flut

Aus GaretienWiki
Version vom 14. Oktober 2016, 14:43 Uhr von Kristofer (D | B)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Reichsstadt Eslamsgrund, 30. Efferd 1036 BF, am Mittag

„Volk von Eslamsgrund, Bürger des Raulschen Reiches, treue Diener der Kaiserin ... hört mich an...“

Es dauerte eine Weile, bis die Menge sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Doch die durchdringende Stimme des Geweihten fing ihre Aufmerksamkeit, zumal die hintersten Reihen dachten, das Einhorn würde weitersprechen.

„Ich weiß es, eure Rufe tun es kund, viele von euch denken an ihn, viele von euch sehnen sich vielleicht sogar zurück nach den Tagen unter eurem alten Grafen, Yesatan von Eslamsgrund. Ihr wisst, dass er für Leibeigene und Bauern eintrat, wider die Fron.“

Inzwischen hing die Menge wie gebannt an seinen Lippen. Eine Rede über Yesatan, das wollten sie hören. An einigen Stellen des Platzes gab es noch immer einige Jubelrufe auf den alten Grafen, doch diese wurden schnell zum Schweigen gebracht.

„Ihr wisst auch, was mit ihm geschah. Wenden wir den Blick ab von unserer geliebten Heimat, wenden wir den Blick ab von Eslamsgrund, ab von Garetien, ab vom Raulschen Reich und blicken wir nach Westen, an den Yaquir und die Gestade des Lieblichen Feldes. Dort gibt es keine Leibeigenschaft, keine Fron. Bei aller Liebe zu unserer Heimat, zum Reich und unserer Kaiserin, wir müssen, wenn auch widerstrebend, eingestehen, dass das Horasreich von Hesinde wahrhaft gesegtnet ist und dort in ihrem Namen Leistungen vollbracht werden, die bei uns noch kaum vorstellbar sind.

Wie kommt dies? Wie kommt es, dass diese Leistungen in Vinsalt vollbracht werden, in Kuslik, Methumis, Grangor und Belhanka und nicht hier, in Garetien, in Gareth, in Eslamsgrund? Geschah es durch Aufruhr? Geschah es durch eine revolutio? Geschah es durch daimokratia? Sind dies die Mittel der Hesinde. Können dies die Mittel der Zwölfe sein, frage ich euch? Ihr Bürger von Eslamsgrund, sie sind es nicht, sie können es nicht sein, denn sie schaffen Chaos und Chaos ist immer nur ein Ausfluss der 7. Sphäre. Chaos ist immer wider die Götter. Denn die Götter, so verschieden sie auch seien mögen, stehen für die Ordnung. Sie sind, ich betone es, die Götter sind die Wächter der Ordnung. Die Praiosgeweihten und viele Adlige sprechen von einer praiosgefälligen Ordnung, die es zu bewahren gilt. Mögen sie dies tun! Ich spreche von einer göttlichen Ordnung und es ist die Pflicht jedes treuen Anhängers der Zwölf Götter diese Ordnung zu wahren.

Doch ihr treuen Untertanen des Reiches, Bürger von Eslamsgrund, Hesinde ist auch die Göttin des Wandels und die göttliche Ordnung erlaubt Wandel. Wandel, wie er im Horasreich vonstatten ging! Unter einer starken Herrscherin und durch ein treues Volk und einen aufgeschlossenen Adelsstand. Der Wandel Hesindes geht langsam von statten, er ist wie ein stetig strömender Fluss, dessen Wasser sich allmählich über die Jahre ein neues Bett graben, selbst in den härtesten Fels. Vielleicht sind hier in Garetien Kräfte am Werk, die alles daran setzen diesen Fluss zu stauen, den Wandel wie einen Fluss einzudämmen und ihr tut recht daran, ihnen entgegen zu treten. Doch seid vor übereilten Taten gewarnt! Reist ein Bauer einen Damm, der seine Felder austrocknen lässt, ohne Bedacht ein, so wird das aufgestaute Wasser sein Feld überfluten, die schon ausgesähte Saht fortspühlen. Die Körner, die sich noch im Felde befinden, werden durch zu viel Wasser verdorben werden. Etwas derartiges mag auch hier geschehen. Gebt also Acht, dass ihr keine Flut entfesselt, die euch hinwegreißt.

Dennoch ist der Bauer, dessen Feld verdorrt, nicht machtlos. Anstatt den Damm einzureißen, kann er das Wasser auch kontrolliert abfließen lassen, um sein Feld zu bewässern. Mit Behutsamkeit wird er mehr erreichen als mit Hast. Haltet auch ihr es so. Ihr alle, Adlige, Bürger, Freibauern. Schickt eure Kinder in Schulen. Wenn es keine in eurer Nähe gibt, stiftet sie. Lernt selbst. Lehrt selbst. Lehrt. Wenn ihr nicht lesen könnt, lernt es. Schreibt eure Erkenntnisse auf. Wenn ihr nicht schreiben könnt, lernt es. Wenn ihr euch unterdrückt fühlt, rebelliert nicht, konsultiert die Gesetze. Erlernt die Rechtskunde. So es euch anvertreut wurde zu herrschen, so solltet auch ihr das Recht des Reiches kennen. Mehr noch, euch obliegt große Verantwortung, erlernt die Kunst der Herrschaft, erlernt die Staatskunst. Seid euren Untertanen gute Herrscher. So ihr einen hesindegfälligen Wandel herbeiführen wollt, ruft nicht nach einem Toten, ruft nach der Kaiserin und erzählt ihr, was ich heute hier sprach.

Nandus und die Zwölfe mit euch!“

Noch immer herrschte beinahe gespenstige Stille auf dem Marktplatz von Eslamsgrund. Erschöpft trat Edorian zurück ins Innere des Verlagshauses.