Geschichten:Der Abschied von einem unreifen Früchtchen

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Pfalz Breitenhain, Ende Praios 1036 BF

Mit panisch weit geöffneten Augen rannte Selinde von Hartwalden-Hartsteen die schmale Wendeltreppe hinauf, ohne dabei auf die erschrockene Magd und den durch ihren Rempler verschütteten Zuber oder die überraschte und stirnrunzelnde Greifenfurter Praiotin Praiodane von Immingen zu beachten, die ihr mit gefalteten Händen in ihrem Ornat auf dieser windigen Stiege entgegen schritt. Selinde verschwendete auch keinen Gedanken daran, dass sie sich wieder einen schweren Tadel von ihrem Schwertvater würde anhören müssen, aber wie wenig gab sie auf die Worte dieses ungebildeten Impertinenzlers, bei welchem die Herrin Hesinde schon längst alle Hoffnungen hatte fahren lassen.

»Euer Gnaden, euer Gnaden!«, brachte sie mehr keuchend als klar formuliert hervor. »Man will Euch abholen und in der Kaisermark beim neuen Cantzler einsperren! Eben gerade war ich dabei, wie Greifgunde die Ankunft des Kutschers und sein Begehr gemeldet hat. Schnell, jetzt ist Eure letzte Chance noch zu entfliehen! Ich habe selber gehört, wie der Pfalzgraf zu seinem schäbigen Tulamiden gesagt hat, dass er Euch nun endlich für immer los wäre und er dem Luring das nötige Holz für Euren Scheiterhaufen direkt mitschicken werde.«

Die linke Augenbraue der Nandus-Geweihten hob sich ein wenig, als ob er seiner Schülerin, als die er seine Verbündete auf der Kaiserpfalz längst betrachtete, zu verstehen geben wollte, dass sie in ihrer Hektik und Panik wieder einmal zu kurz dachte. Oder es gingen dem seltsamen Mann andere Gedanken durch den Kopf, die nur er selbst verstand. Mit einer leichten Handbewegung wies er die Knappin an, sich auf die schmale Pritsche zu setzen und ihm zuzuhören.

Stumm folgte Selinde der Aufforderung. Mit einer beginnenden Tränenflut in den Augen schaute sie auf den gütig lächelnden Mann, den sie längst in ihr, gerade sehr heftig klopfendes, Herz geschlossen hatte, und der ihr mehr bedeutete als irgendeine andere Person auf dem ganzen Dererund.

»Die unreife Frucht geht ihrer Reife entgegen«, sagte der Philosoph und holte aus seinem Ärmel einen kleinen grünen Apfel, offenbar von einem der Knechte vor der Zeit seiner Reife von den Höfen des Umlandes zur Pfalz gebracht. »Dabei wird ihr im Reifen das, was sie noch nicht ist, keineswegs als Noch-nicht-vorhandenes angestückt. Sie selbst bringt sich zur Reife, und solches Sichbringen charakterisiert ihr Sein als Frucht. Alles Erdenkliche, das beigebracht werden könnte, vermöchte die Unreife der Frucht nicht zu beseitigen, käme dieses Seinende nicht von ihm selbst her zur Reife.«

Selinde kannte den Geweihten des enigmatischen Einhorns gut genug, um zu wissen, dass er über sie sprach. Oder dass wenigstens die Möglichkeit bestand, dass dies der Fall war. Man konnte da nie wirklich sicher sein. Und so lauschte Selinde aufmerksam den Worten ihres Mentors.

Der hagere Mann fuhr mit einem nachdenklichen Blick aus dem schmalen Fensterchen hinaus auf den Reichsforst fort und sponn seinen Gedanken weiter: »Das Noch-nicht der Unreife meint nicht ein außenstehendes Anderes, das gleichgültig gegen die Frucht an und mit ihr vorhanden sein könnte. Es meint sie selbst in ihrer spezifischen Seinsart. Die noch nicht volle Summe ist als Zuhandenes gegen den fehlenden unzuhandenen Rest „gleichgültig“. Streng genommen kann sie weder ungleichgültig, noch gleichgültig dagegen sein.«

Da war es wieder, dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Selinde versuchte den Worten des Geweihten so gut sie es vermochte zu folgen, begann sich dann aber unweigerlich in dem Bedeutungsgeflecht zu verheddern, welches durch sie entstand. Und einmal darin verloren, fand sie den Faden des Gedankens nicht mehr wieder.

»Die reifende Frucht jedoch ist nicht nur nicht gleichgültig gegen die Unreife als ein Anderes ihrer selbst«, hob Gerheim seine Stimme leicht an, als habe er in seiner Rede nun einen besonders interessanten Gedanken erreicht, »sondern reifend ist sie die Unreife. Das Noch-nicht ist schon in ihr eigenes Sein einbezogen und das keineswegs als beliebige Bestimmung, sondern als Konstitutivum. Entsprechend ist auch das Dasein, solange es ist, je schon sein Noch-nicht.«

Und gleichgültig warf er den unreifen Apfel hinaus aus dem Turmfenster.

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür und der Pfalzgraf, begleitet von einem in königlich garetischen Farben gewandeten Mann, betrat den Raum. Mürrisch nahm Hilbert von Hartsteen das schüchterne Mädchen wahr, das nun ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, enthielt sich jedoch des bissigen Kommentares, der ihm in den Sinn kam. Stattdessen wandte er sich an den Kutscher und deutete auf den Geweihten: »Dies ist das Subjekt. Der Abreise steht nichts im Weg, es ist in unserer beider Sinne, wenn ihr sofort aufbrecht und Eurem Auftrag gemäß seine Gnaden nach Morgenfels überführt.«

Und so verlies der Nandus-Geweihte Gerdtian Gerheim die Waldsteiner Kaiserpfalz Breitenhain, begleitet von den Tränen der Knappin des Pfalzgrafen, die vergeblich viel Zeit und Mühe in den letzten Monden damit verbracht hatte, den gelehrten Reden des Dieners des Rätselfürsten irgendeinen Sinn zu verleihen.





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29. Pra 1036 BF zur mittäglichen Traviastunde
Der Abschied von einem unreifen Früchtchen
Sertiser Nachtgedanken


Kapitel 7

Autor: Hartsteen