Geschichten:Zwei Morde auf Schloss Sommerheide

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Schloss Sommerheide, 28. Phex 1041 BF

Das Schloss war umgeben von abgeernteten Feldern und saftigen Hainen, deren Grün gerade begann, ins Gelbe umzuschlagen. Die Sonne ging soeben über den Hügeln im Westen unter, und von genau dort war vor wenigen Augenblicken eine Kutsche mit einigen Reitern Begleitung zum Schloss gekommen. Auf dem Verschlag der Kutsche prangte dasselbe Wappen wie auf den Satteldecken der Reiter und auf den Wimpeln des Schlosses: die goldene Sonnenblume auf blauem Grund. „Die ewig Lachende“ nannten die Mitglieder der Familie die Blume in ihrem Wappen. Aber die Familienmitglieder, die sich zunächst im Hof und nun im hohen Ährensaal versammelt hatten, in das die Sonne durch schlanke Fenstern mit Blumenmotiven ihre warmen Abschiedsstrahlen sandte, diese Familienmitglieder lachten nicht.

Im Gegenteil.

Die Greisin auf dem Stuhl bildete das Zentrum der Familie, aber auch das Zentrum dieser Menschengruppe: Alle hatten sich auf sie ausgerichtet, seitdem sie in den Saal gekommen war, schwer gestützt auf ihre Urenkelin, die Peraine-Geweihte Palinai, die sich gerade auf Burg Mückenhang aufgehalten hatte, wo die Familie – wie jedes Jahr – das Erntedankfest gemeinsam feiern wollte. Palinai hielt die Hand ihrer Urgroßmutter Belona, die wiederum die Hand einer jungen Frau hielt, die ihr zu Füßen lag und heftig schluchzte.

„Wann?“, fragte die uralte Junkerin von Mückenhang mit einer tiefen Greisenstimme.

„Vor nicht einmal drei Stunden. Wir haben sofort nach dir geschickt, Oma“, antwortete Sol von Isppernberg und redete die alte Junkerin so an, wie alle in der Familie sie anredeten – ob sie nur Großnichten vierten Grades waren oder direkte Abkömmlinge.

Belona nickte und überlegte. Dann richtete sie ihre wässrigen Augen, deren Blick etwas Gelblich-Beunruhigendes hatte, auf den Boron-Geweihten Malwart, der gleichzeitig der Gatte der Hausherrin Isida Uthjane war: „Malwart, du gehst zu der Toten. Mach sie zurecht. Man sollte nach Möglichkeit nicht sehen, dass sie ermordet wurde. Danach betest du für meine Urenkelin.“

Die Frau zu Füßen der Greisin schluchzte auf. Es war Quelina, die Mutter der ‚Urenkelin', die nur eine Ururgroßnichte war. Aber das war hier Nebensache.

„Du, Quelina, weine ruhig, aber bete für die Seele deiner Tochter. Und für die Seele deiner Tante, die du ermordet hast.“ Quelina heulte erneut auf, wurde aber von ihrer Schwester Lechmin in den Arm genommen, die ebenfalls weinte.

Ugdane“, richtete sich Belona an eine der anwesenden Praios-Geweihten, „nimm doch bitte alle mit raus, die nicht direkt Familie sind: Melina, Giselher und Borferde.“

Die Greisin wartete, bis ihrem Wunsch entsprochen worden war. Die zweijährige Borondra giggelte lustig, weil sie sich über so viel Familie freute, und Belona bedachte ihre Ururenkelin mit einem warmen Lächeln. Sie hatte so viel Familie gehen sehen, nicht zuletzt ihre eigenen Kinder, dass sie sich über alle, die kamen, freute. Außerdem ist Jugend etwas, an dem sich die Alten immer erfreuen können. Wenn sie es geschafft haben, den Neid zu besiegen.

„So, nun sin wir unter uns. Was genau ist passiert?“ Belona blickte in die Gesichter ihrer Verwandtschaft. Es war Alrik Lobesam, der das Wort ergriff.

„Es war so, Oma. Wie du weißt, hat es Tante Orungana nicht gefallen, dass wir, also unsere Familie, mit Madas Fluch geschlagen waren …“

Er wurde durch zorniges Gemurmel und den Aufschrei Quelinas unterbrochen, konnte dann aber weiterreden.

„Sie hat mir immer wieder gesagt, wie unanständig sie das findet. Und dass wir das Kind schon vor fünf Jahren …“

Erneut erhoben sich Geschrei und zornige Zwischenrufe.

„Ich sage doch nur, was Tante Orungana gesagt hat, Himmel! Ich habe Janda genauso geliebt wie wir alle hier!“ Alrik Lobesam verzog das Gesicht in Trauer und setzte dann fort: „Als Tante Orungana hier angekommen war, hat sie allen Kindern guten Tag gesagt, und so weiter, alles ganz normal. Und dann hat sie offenbar zur Mittagszeit die kleine Janda …“ Ihm versagte die Stimme. „Die kleine Janda zur Praiosstunde …“

Ihm versagte die Stimme. Quelina aber schrie: „Ermordet! Sie hat sie ermordet! Ein Kind! Wie kann sie do grausam sein!“ Der Rest dessen, was sie schrie, war nicht verständlich, auch weil ihre Schwester Lechmin sie an sich drückte.

Jermorana, Sols Schwester, setzte die Erzählung fort: „Tante Orungana meinte, sie hätte Madas Fluch ausgetrieben und Janda wäre dabei gestorben. Ihre Seele sei aber nun bei Praios. Als Base Quelina das erfuhr, ist sie sofort in die Kapelle und hat gesehen, was passiert war. Tante Orungana hat mit Vorwürfen angefangen, dass Quelina ja mit ihrer Ehe mit dem Magier Jandor den Fluch ins Haus geholt hätte und so weiter und dann …“

„… dann hat Quelina sie getötet“, beendete die greise Belona den Satz. „War das gerecht, Radomir?“, wandte sie sich an den Paiosgeweihten Radomir, der sich auffallend unauffällig im Hintergrund gehalten hatte.

„Äh“, gewann der Angesprochene Zeit. „äh, wie man’s nimmt. Mit Madas Fluch ist nicht zu spaßen, siehe der Dämonemeister …“

„Hat deine Nichte Jandoriane irgendeine Gemeinsamkeit mit dem Dämonenmeister gehabt außer, dass sie magiebegabt war? Hat sie Dämonen beschworen? Hat sie die Krone bedroht?“ Belona war so wütend wie seit Jahren nicht mehr. Der feiste Radomir zuckt bei jedem Wort schuldbewusst zusammen.

„Nein“, gab er kleinlaut zurück, „aber Haffex …“

„Aber Haffax?“, brüllte Quelina. „Haffax war ein gefährlicher alter Knacker. Janda hingegen war ein Kind! Deine Base hat ein Kind ermordet!“

„Das ist unentschuldbar“, antwortete Radomir eingeschüchtert.

Belona sprach wieder und gab Lechmin ein Zeichen, Quelina zurückzuhalten: „Du findest also, dass Orungana ihre gerechte Strafe bekommen hat?“

„N..n..nei..aja. Quelina hätte ihr nicht einfach mit dem Lüster den Schädel einschlagen dürfen“, behauptete Radomir.

„Sondern? Hätte es ein Gerichtsverfahren geben sollen?“

„Na ja. Vielleicht.“ Radomir gab ein klägliches Bild ab. Immerhin war er Praiosgeweihter in der Stadt des Lichts, aber hier, vor seiner Familie, verwandelte er sich in den verweichlichten, bequemen Jungen zurück, der immer den Weg des geringsten Widerstandes gegangen war. „Immerhin jetzt brauchen wir eine Gerichtsverhandlung.“

„Weshalb?“, wollte Praionna wissen.

„Weil eine Praios-Geweihte ermordet wurde“, antwortete Radomir und reckte das Kinn vor.

„Unsinn“, schnitt ihm Belona das Wort ab. „Wir brauchen eine Gerichtsverhandlung, aber nicht, weil die wahnsinnige Orungana endlich bekommen hat, was sie verdiente, sondern weil wir zu viele Geweihte in der Familie haben, dich ausgenommen Radomir. Mit dir könnten wir reden, aber Lucian und Falcoria werden auf Strafe bestehen. Und auch du, Laurona, machst ein Gesicht, als wenn du eine Unfalllösung nicht mittragen würdest.“

Die angesprochene Ucuriatin nickte zögerlich.

„Also brauchen wir einen Schuldigen. Nein, Quelina, du hast genug Leid mit dem Tod deiner Tochter“, befand Beloan resolut. „Ich mache das.“

Es herrschte kurz Stille, dann fragte Sol: „Was meinst du Oma?“

Belona hob den Blick zum Himmel und sah dann ihren Großneffen Alderan an: „Ich habe lang genug gelebt. Alderan, reite schnell zum Markvogten, er soll das Gericht einberufen. Und sag ihm, ich habe Orungana von Sommerfeld erschlagen.“

„Mit dem schweren Lüster?“, fragte Alderan ungläubig. „Das wird der nie glauben.“

„Das ist egal. Bis das Gericht mit diesem Fall fertig ist, kann ich das dem Götterfürsten persönlich erklären.

Und so kam es: Vier Wochen später entschlief Belona Rondralieb von Isppernberg im 98. Jahr ihres langen Lebens auf Schloss Sonnentor, wo sie der Markvogt zu Gerichtszwecken „auf Ehre“ in einer besonders sonnigen Suite „gefangen“ gehalten hatte.