Geschichten:Unter Rabenschwingen – Rabenschweigen

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Rabenschweigen

Stadt Uslenried, 21. Travia 1037 BF

„Vater?“ Der Angesprochene blickte von den Büchern auf, in denen er seine Geschäfte aufzuzeichnen pflegte; es war seine Tochter Isalin, die die Kontorstube betreten hatte und entgegen sonstiger Tage so wirkte, als ob sie etwas aus der Fassung gebracht habe. „Was ist denn, mein Kind?“ „Ich war gerade im Tempel, also im Borontempel, meine ich…“ „Im Borontempel?“ fiel Ernbrecht Karrmacher seiner Tochter ins Wort. „Was wolltest Du da, Kind? Ist jemand gestorben?“ „Äh, ja. Ich wollte eigentlich hinunter zur Ossenmühle, wie Du mir aufgetragen hattest, aber ich wurde auf dem Weg dorthin in ein Gespräch verwickelt – mit der Alrike Hispens, und Du weißt ja, wenn sie erst einmal anfängt, hört sie so schnell nicht wieder auf.“ „Und was hatte sie tolles zu erzählen?“ erkundigte sich Karrmacher, der nicht nur das Handelskontor der Familie betrieb, sondern zugleich Bürgermeister der Stadt Uslenried war. „Sie war wohl schon vorgestern am Tempel, weil sich der Todestag ihres Vaters jährte, und wie immer hat sie Seiner Gnaden als Spende einen Korb gepackt. Und weil Seine Gnaden auch auf Rufen nicht vor die Tür trat hat sie den Korb einfach vor die Tempelpforte gestellt, aber neugierig wie sie ist hat sie gestern abend noch einmal nachgesehen – und da stand der Korb immer noch da.“ Isalin stemmte die Hände in die Hüften und tat entrüstet, wie es Alrike Hispens, die Wirtin vom Stübchen, auch immer zu tun pflegte. Karrmacher seufzte. „Kind, nun komm auf den Punkt.“ „Jaja. Als sie mir das also so erzählt hatte dachte ich, ich schaue lieber selber einmal nach. Also bin ich heraus zum Tempel gelaufen, und der Korb stand immer noch da. So habe ich mir ein Herz gefasst und habe gedacht, ich schaue mal nach dem rechten, Seine Gnaden ist ja nicht mehr der jüngste. Also bin ich in den Tempel hinein, und als dort niemand war, bin ich weiter geschlichen in die Gemächer hinter dem Altarraum. Und da habe ich ihn dann gefunden.“ Sie holte tief Luft. „Wen gefunden? Seine Gnaden Thôrbahir?“ hakte Karrmacher nach. „Ja. Er kniete zusammengesunken vor einer Rabenstatue in seiner Kammer. Als ich ihn ansprach, reagierte er nicht. Und da habe ich ihn die Schulter gefaßt und er ist umgefallen. Ganz bleich war, und kalt. Gevatter Boron hat ihn zu sich gerufen, wohl bestimmt schon vor zwei Tagen.“ Ernbrecht seufzte. Boromeo Thôrbahir war der einzige Geweihte des Raben in der Stadt – gewesen, ergänzte er gedanklich. Nun war der Tempel also vakant. „Hab Dank, mein Kind. Dann werde ich wohl oder übel dem Baron Bescheid geben müssen, und auch dem Praiostempel. Es muss nicht meine Sache sein, sich auch noch um die Angelegenheiten des Klerus kümmern zu müssen. Ich bin ja schließlich nur der Bürgermeister!“