Geschichten:Stühlerücken

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Gsevino vom Prutzenbogen wischte noch einmal über die Platte des großen, ovalen Tischs, prüfte, ob nicht doch ein Staubkörnchen sich heimlich in irgendeiner Rille lümmelte, denn von diesen – den Körnchen Staubes nämlich – hatte es sehr viele gegeben in diesem Raum, dem Zedernkabinett. Denn seit dem Tode des Praiodan von Luring – seit seiner Ermordung! – hatte das Paneel der Garether Burggrafen, das ebenfalls Zedernkabinett genannte Gremium zur Beratung Ihrer Majestät der Königin, nur sehr selten hier getagt. Heute aber waren sie alle versammelt – außer Burggraf Ardo vom Eberstamm, der endlich wieder einmal Bequemlichkeit genießen wollte und sein zugiges Torhaus im Schloss Ochsenblut gegen das gemütliche Stadthaus in Ferdok getauscht hatte. Alle also waren da: Ginaya von Luring-Gareth, Rondriane von Eslamsgrund, Oldebor von Weyringhaus, Alarich Ruhmrath von Gareth-Sighelmsmark, Helmar von Hirschfurten, selbst der greise Baron Irian Ohneturm von Vierok und Markvogt Barnhelm von Rabenmund, der von seinem Recht zur Teilnahme heute – gerade heute – Gebrauch machte. Denn heute, am 2. Tage des Rondra, mit einer einmonatigen Verzögerung seit seiner Ernennung, sollte der neue Staatsrat Garetiens, der Erste königliche Rat und Präses des Zedernkabinetts, seinen Einstand in diesem Kreise geben: Reichsvogt Horbald von Schroeckh, den nun Exzellenz nennen zu müssen sich ein Großteil des Adels kaum gewöhnen konnte.

Die Garether Burggrafen standen noch im Eingangsbereich des Kabinetts, schwatzten miteinander, besprachen beispielsweise die Ernte in ihren Lehen, die aufsässigen Bauern, die ruppigen Ritter, die Preise für Getreide, Rösser, Hölzer und dergleichen; jener steuerte eine Geschichte seines halbtauben Vogtes bei, die zig Hundert Dukaten gekostet hatte, diese machte auf einen neuen Weinhändler in Rosskuppel aufmerksam, den aufzusuchen sich für jeder guten Mutter Garetiens Kind sich lohnen würde; Ardos Fehlen wurde von einigen als olfaktorische Grundverbesserung der Versammlung gelobt, doch bedauerten alle, die Leutseligkeit des munteren Koschers ausgerechnet am heutigen Tage entbehren zu müssen.

Gsevino vom Prutzenbogen hatte derweil die Inspektion des Kabinetts und des Mobiliars abgeschlossen, schien zufrieden, rückte noch einmal die hochlehnigen Stühle in Reihe, um dann das Mäppchen wieder unter den Arm zu klemmen, dass er auf Praiodans Stuhl – auf welchem sonst! – kurz abgelegt hatte. Keiner nahm Notiz von ihm, keiner sah, wie er den Priem aus dem Mund nahm und, kurz gehässig grinsend, an Schroeckhs Platz unter den Tisch klebte.

Da erschien Horbald von Schroeckh auf einmal: Er kam aus dem kleinen Nebengelass durch die rückwärtige Tür, weshalb auch ihn niemand bemerkte – außer Prutzenbogen, der in Habachtstellung ging. Schroeckh trug ebenfalls eine Mappe unter dem Arm, die vor Pergamenten überquoll. Sie gab ihm etwas Geschäftsmäßiges, etwas Wichtiges. Zudem hatte er die Amtskette umgelegt, die ihm als Staatsrat zustand, die aber sein Vorgänger nie getragen hatte, seit sie ihm umgelegt worden war. So also kam er wie eine kühle Brise hereingewindet, schnellen Schrittes, steuerte auf einen der Stühle zu, drehte ab, nahm einen anderen ins Visier, ließ auch diesen und umrundete den Tisch fast zur Hälfte, ehe Prutzenbogen den Staatsrat am Ärmel erwischte und ihn so einfangend zu seinem Platz geleitete. »Ihr sitzt hier.« »Hier? Das wollen wir doch mal sehen«, sprach er, und setzte sich einfach einen Stuhl weiter. Nun gewahrten auch die Burggrafen des Staatsrates Ankunft und begaben sich zu den Stühlen. Selbstverständlich nahmen sie die veränderte Sitzordnung wahr, Burggraf Oldebor beispielsweise rückte sogleich einen Platz weiter, schließlich hatte er immer links neben dem Staatsrat gesessen, das allerdings brachte die Sitzordnung zwischen Ginaya und Helmar durcheinander, die fast gleichzeitig denselben Stuhl besetzen wollten. Helmar gab nach, zog sich auf Ardos Platz zurück, wohingegen gegenüber Alarich, Barnhelm und Rondriane einander Komplimente machten, allerdings wenig Glück mit der Zueisung des Platzes hatten. »Dann setzt doch Ihr Euch auf Lurings Platz, edle Rondriane«, säuselte Barnhelm so honigsüß, dass Alarich hellhörig wurde. »Aber nein, Hochwohlgeboren, Ihr steht im Rang höher, so sollt Ihr auch höher sitzen«, schäkerte Rondriane zurück, und Barnhelm nahm zur Rechten Schroeckhs Platz.

Ruhe kehrte ein, die Burggrafen verhielten gespannt, manch einer vermisste, Erans qualmenden Tabak, Ardos Stallgeruch und Arnwulfs schalkhaftes Grinsen – und sogar den strengen Blick Praiodan von Lurings, kurzum, sie vermissten die gute alte Zeit, als Gareth noch unversehrt und Garetien noch ungespalten und glücklich gewesen.

Schroeckh räusperte sich, und mit dem ihm eigenen Näseln hub er an: »So, da sind wir also. Im Namen der Königin, der Götter und des Adels Garetiens begrüße ich Euch, verehrte Burggräfinnen und Burggrafen zum ersten Paneel des Zedernkabinetts in diesem Jahr. Wo sind wir dran?«

Niemand rührte sich. Einzig Barnhelm, der mit dem Stuhl an den Tisch gerückt war, verzog das Gesicht, wischte seine Hände am Taschentuch, inspizierte seine Beinkleider, das Wams – war beschäftigt, verärgert und beschmutzt, denn der schleimige Priem hatte ihn ganz erwischt. Gsevino vom Prutzenbogen, der des Staatsrats Frage an ehesten hätte beantworten können, beobachtet fasziniert, wie der kleine Priem sich scheinbar vervielfältigt hatte und sich an vielen Orten von des Markgrafen Kleidung und Händen niedergelassen hatte.

Burggraf Alarich faste sich ein Herz: »Hochgeb… Exzellenz. Vielleicht legt Ihr uns zu Beginn die Grundzüge Eurer Politik dar, auf dass wir sie vernehmen, erfahren, begreifen und sie bereichern können?«

»Hier bereichert sich keiner mehr«, warf Schroeckh unwillig ein, »die Zeitzen sind vorbei, wo sich die Damen und Herren die Posten und Renten, Pfründe und Taler zugeschanzt haben, Burggraf! Das ist unter anderem meine Politik: Schluss mit allem, was Garetien hemmt, behindert, sich dem Wiederaufbau und der Einigkeit in den Weg stellt!« Schroeckhs Augen sprühten vor Eifer, er wirkte alert und gewappnet – wie weiland vor dem Gericht, als er sich selbst verteidigt und aus einer verfahrenen Kiste herausgehauen hatte. Die Burggrafen blickten erstaunt. »Was meint Ihr, Exzellenz«, fragte Helmar von Hirschfurten ehrlich überrascht und unverständig, »bei uns ging’s nie zu wie am Horashofe. Ich weiß nicht …«

»Ihr wisst wohl, was ich meine Hirschfurten: Wie Ihr zum Beispiel an die Würde der Pfalzgrafschaft Goldenstein gekommen seid! Von jetzt ab – und das ist auch der klare Wunsch Ihrer Majestät, die mich zu diesem Zeichen berufen hat – sollen Leistung und Verdienst wieder Ansehen und Ehre befördern. Wir brauchen wieder Frauen und Männer mit Herz und Hand, die zusammenstehen, anpacken, der Krone einig dienen. Was wir nicht gebrauchen können, sind Schnapphähne, Langweiler, Müßiggänger und … Stammbäume, die so lang sind, dass man sich nur die Hälse verrenkt.«

Schroeckh hatte sich in Rage geredet, mit der Hand auf den Tisch geklopft und wischte sich nun den Schweiß von der Stirn. Er war zu weit gegangen, dass konnte man auch vom kürzesten Stammbaum aus sehen und brauchte keinen höheren. Helmar von Hirschfurten war aufgesprungen, die Hand am Gürtel, wo sonst sein Schwert hing; Rondriane von Eslamsgrund, ein langer Stammbaum, war rot angelaufen; Alarich von Gareth von Gareth hingegen war erbleicht und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ginaya von Luring-Gareth aber lächelte leicht und murmelte: »Klingt gut«, Baron Irian von Vierok nickte. Barnhelm von Rabenmund enthielt sich eines Kommentars und taxierte die Reaktionen.

Helmar von Hirschfurten fixierte Schroeckh mit flammendem Blick, erhob den Finger und schien den Staatsrat damit erdolchen zu wollen: »Schroeckh, erklärt Euch. Oder wir klären das auf andere Weise, Ihr hättet die Wahl der Waffen.« Schroeckhs eh schon schneckenbleiches Antlitz weißte sich noch stärker, doch Barnhelm und Alarich traten dazwischen.

»Was der Staatsrat gewiss meinte, Euer Edelhochgeboren, ist, dass die Krone es begrüßt, wenn Leistung und Streben den Adel antreiben und beflügeln, dass solches auch belohnt werden solle wie weiland unter unserem strahlenden Kaiser Hal, dass aber keineswegs Ihr, Herr Helmar, oder Eure Familie darin geschmälert sein müsste, erwerbt Ihr doch durch eigene Taten sowie durch das Blut Eurer Vorfahren und deren Taten Eure vornehme Stellung, wie auch wir sie gleichenfalls vor den Augen der Götter und des Standes erworben haben!« Rabenmund hatte zuerst schnell gesprochen, sich dann allerdings verlangsamt, als er merkte, dass die beschwichtigenden Worte ihre Wirkung entfalteten. Alarich von Gareth hieb noch einmal in die gleich Kerbe, anschließend sprach der Staatsrat gefasst und getragen: »Ich bitte um Vergebung, Hochedelgeboren, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt haben sollte. Genau so, wie Herr Barnhelm und Herr Alarich es gesagt hatten, meinte ich s und um kein Gran anders!«

»Gut, wenn das ist, kann ich bleiben. Ich nehme Eure Bitte um Verzeihung an und gewähre sie.«

»Nun also«, begann Schroeckh fahrig aufs Neue, nachdem sich alle vom Schrecken erholt hatten, »wo sind wir denn dran?«

Diesmal war Prutzenbogen auf dem Posten und reichte dem Staatsrat seine Kopie der Tagesordnung, weil der Staatsrat die seine offenbar nicht hatte finden können. »Aha!«, intonierte Schroeckh mit Timbre und gewichtig, »da wären also: Grenzberichte, Aufbauberichte, Ernteberichte, Berichte über die Kassa des Grafen von Eslamsgrund, Berichte über die Umtriebe der beiden Hartsteener Grafen sowie über das Geschehen in der Kaiserin Stadt Hartsteen, Berichte über Räuber in Reichsforst und Berichte aus dem Reichsforst, nämlich: Wo ist eigentlich Njerbusch abgeblieben?«