Geschichten:Recht oder Gerechtigkeit - Praios' Wunsch sei uns Befehl

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Praios’ Wunsch sei uns Befehl – doch wer kann ihn deuten?

Praiota bringt Greifenfurter Baronie in Aufruhr!

Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit des Umbruchs, der schmerzlichen Einschnitte und des bangen Neubeginns. Kaum eine Provinz des Reiches spiegelt die Grausamkeit der Vernichtung und den unumstößlichen Willen, immer wieder neuen Mut zu schöpfen, derart deutlich wieder wie Greifenfurt. Und von hier aus wird der Geist der Veränderung ausgerechnet in jene Institution getragen, die für die meisten Aventurier gleichsam Synonym für Beständigkeit ist und die, einem basaltenen Sockel gleich, die Grundfeste unseres Reiches bildet: die Höchste und Heiligste Kirche des Götterfürsten, des Herre Praios selbst.

Wie konnte es dazu kommen? Nun, zunächst einmal sollte man erwähnen, dass die Ereignisse, von denen hier die Rede sein soll, nicht etwa nur von einer einfachen Wanderpredigerin ausgelöst wurden, sondern von einer Praiotin von adeligem Geblüt – einem Spross eines der berühmtesten Häuser, die das Reich je hervorgebracht hat, des Geschlechts derer von Hartsteen. Die junge Praios-Geweihte Lechmin Lucina von Hartsteen nämlich ist es, die bei ihrem jüngsten Aufenthalt in Greifenfurt den Adel mit scharfen Worten des Frevels wider den Götterfürsten (!) zu bezichtigen wagte – und zwar nicht allein im Kreise der ihr Gleichgestellten, sondern vor Bauern und einfachen Handwerksleuten.

Doch um unseren Leser nicht zu verwirren, soll hier erst einmal alles der Reihe nach erzählt werden, so wie es sich zugetragen hat. Im Rahjamond des Jahres 27 Hal wurde die Praiota Lechmin Lucina von Hartsteen vorn Wahrer der Ordnung zu Gareth in die Greifenfurtsche Baronie Hundsgrab geschickt, wo sie mit der Aufgabe betraut war, den Neubau des dortigen Gotteshauses zu überwachen. Es war dies beileibe nicht das erste Mal, dass Ihro Gnaden in kirchlicher Mission in die Markgrafschaft reiste, vielmehr hatte sie fast die gesamte Zeit des Orkensturms hier verbracht. Denn seit jenem unheilvollen Tag des Jahres 19 Hal, da sie als 16-jährige Novizin Vater und Schwester in der Schlacht am Nebelstein verlor, hatte sie sich geschworen, den Willen des Herrn in die Welt zu tragen, damit die Menschen, von gläubiger Hingabe gestärkt dem Dunkelsinn mit neuer Kraft entgegentreten konnten. Während des Orkkrieges hatte sie sich der Vertiefung des Glaubens verschrieben und war, den marodierenden Orkbanden und mordenden Diebeshorden zum Trotz, von Wehrtempel zu Wehrtempel gereist. Unmittelbar nachdem sich das ereignete, was als das Wunder von Greifenfurt in die Geschichte eingehen sollte, traf sie in der Hauptstadt der Markgrafschaft ein und machte sich dort um die Linderung der Not, die Bürger und Flüchtlinge gleichermaßen getroffen hatte, und den Wiederaufbau des Greifentempels verdient. Ihr selbstloser Einsatz ließ schon damals das Gerücht aufkommen, sie habe ein Gelübde: abgelegt, das ihr jeden Gedanken an Schonung verbot. Flammender Eifer sprach aber nicht nur aus ihren Taten, sondern auch aus ihren Reden, die sie nicht nur an die Edlen, sondern auch und gerade an die einfachen Leute richtete. An erster Stelle, so lautete die Kernaussage ihrer Predigt, müsse das Streben nach Wahrhaftigkeit und bedingungsloser Gerechtigkeit stehen. Denn nur der wahrhaft Gottgefällige könne auf göttliche Erleuchtung hoffen, die sein Innerstes dahinschmelzen ließe vor Glückseligkeit. Alles Leid ringsumher, ob Schmerz, Hunger oder Kälte, würde von ihm abfallen, denn ihm sei die größte: Seligkeit. zuteil geworden. die ein Mensch auf Deren empfinden kann – Worte der Zuversicht, an die sich die verzweifelten Kriegsopfer klammerten wie an einen Strohhalm. Bald kamen die Menschen in Scharen zusammen, um ihren temperamentvoll dargebrachten Ausführungen zu lauschen, und manch einem, der noch nie zuvor ein Gebet an den Götterfürsten gewagt hatte, schenkte sie in Seinem Namen neuen Mut.

Auch bei ihrer jüngsten Rückkehr nach Greifenfurt gelang es ihr binnen kürzester Zeit, mit feurigen Reden unter dem gewöhnlichen Volk für Aufsehen zu sorgen. Derweil jedoch hatte das Gesagte merklich an Brisanz gewonnen: War es, wie oben zitiert, in Greifenfurt vor allem das eigene Tun und Denken gewesen, das sie allzeit einer strengen Gewissensprüfung anempfahl, so sind es mittlerweile auch das menschliche Miteinander, ja sogar – man höre! – die Erlasse der Obrigkeiten ganz allgemein, die sie, im Dienste der Wahrhaftigkeit, in Frage stellen möchte.

Um den Lesern einen genaueren Eindruck vom Auftreten Ihrer Gnaden zu vermitteln, sei an dieser Stelle ein Bericht aus der Feder unseres Greifenfurter Korrespondenten wiedergegeben. Die nachfolgenden Worte wurden, so seine Notiz, zu den Handwerksleuten von Hundsgrab gesprochen, unter die sich, wie überall in Greifenfurt, etliche Tobrier mischen: »... Und es steht geschrieben, dass es die oberste Pflicht sei eines jeden Menschen, seinen Platz im Weltengefüge zu erkennen, der ihm vom Herre Praios selbst zugewiesen. Denn Praios spricht: Es sei!, und ewiglich verdammt ist jener, der sich seinem Ratschluss zu entziehen sucht. So sei ein jeder aufgefordert, gleich ob Bürger oder Edelmann, durch Versenkung und Mühsal die Nähe des Herrn zu suchen, damit ihm Erleuchtung gewährt werde! Der Versuchungen sind viele, und mannigfaltig die Laster, die aus ihnen erwachsen. Sie heißen Trägheit, Prunksucht, Goldgier (...). Der Mensch aber soll dem Laster entgegentreten. Er sei ein willfähriges Werkzeug in der Hand des Allerheiligsten, einer scharfen Schere gleich, die in Seinem Auftrag das Dunkel zerschneidet! Und die Spitze dieser Schere soll der Adel sein, dem alle anderen folgen. Die Adligen, die über die Gemeinen wachen, seien wie die Hunde eines Hirten, die sich mit. wildem Mut den Wölfen entgegenwerfen. So sei es, und das Auge des Herrn Praios werde auf uns ruhen voller Wohlgefallen (...). Doch ich frage Euch, was sind das für Hunde, die aus eigenem Antrieb die Schafe richten und reißen, die ihnen anvertraut, um sich an deren Fleische gütlich zu tun? Wie kann das noch gottgefällig sein? Und ich frage Euch, was soll ein Werkzeug nutzen, dessen Spitze nach eigenem Gutdünken entscheidet, welchen Weg sie wählt? (...) Und ich frage Euch: Wäre es nicht die heiligste Pflicht eines jeden, ob Bauer oder Zimmermann, jetzt und heute auf dem Platz zu verharren, den Praios ihm zugewiesen? Muss er nicht all seinen Mut zusammennehmen und sich dem Drängen falscher Herren verweigern, wenn er nicht den, von dem alle Macht auf Deren ausgeht., schmähen will? Bei Praios, ich aber sage: Dem gerechten Herrn, was ihm gebührt – auf den Maßlosen aber, den Leuteschinder, der des Kaisers Krume mit dem Blut seiner Schutzbefohlenen tränkt und des Kaisers Gold verprasst, auf den soll der Zorn des Götterfürsten niederfahren!« (Worauf unter den Zuhörern ein Tumult ausbrach, der weite Teile der restlichen Predigt übertönte.)

Ob und inwiefern sich diese Geschehnisse auf die Ruhe und Ordnung der leidgeprüften Markgrafschaft auswirken, bleibt bislang ungeklärt. Auch an einer offiziellen Stellungnahme seitens der Praios-Kirche, die sich mit den doch recht freizügigen Darlegungen Ihrer Gnaden von Hartsteen befassten, ließ man es bislang mangeln. Wir geloben freilich auch in dieser Sache, den Leser mit gewohnter Zuverlässigkeit auf dem Laufenden zu halten.


Aventurischer Bote Nr. 77

Mit freundlicher Genehmigung von Britta N.