Geschichten:Recht oder Gerechtigkeit - Greifenfurter Leineweber rüsten zum Schlag gegen die Obrigkeit

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Hatten wir schon im letzten Boten von den Turbulenzen berichtet, die die freizügigen Reden der Praiota Lechmin von Hartsteen beim einfachen Volk nach sich zogen, so ist es uns in dieser Ausgabe unseres Magazins noch immer nicht gegönnt, von einer Entspannung der Lage zu berichten. Im Gegenteil, wie unser Greifenfurter Korrespondent bezeugte, scheint sich die Situation in der Markgrafschaft zuzuspitzen und steht offenbar knapp davor, in einem blutigen Aufstand zu eskalieren. Nachdem sich (der Bote berichtete) die Praiota von Hartsteen mit ganzer Kraft der »Aufklärung« der ihr anvertrauten Hundsgraber gewidmet und ihnen die Art und Weise, wie man ihrer Meinung nach dem gottbefohlenen Streben nach Gerechtigkeit nachzukommen habe, in temperamentvollster Weise nahegebracht hatte, hat sie in letzter Zeit die Nachbarsbaronie Beldenhag zum Zentrum ihres missionarischen Wirkens erkoren.

Hätte Beldenhag bis vor kurzem noch als Musterbeispiel der in Gareth vielbespöttelten Greifenfurter Hinterweltlersruhe dienen können, so war die Baronie in neuester Zeit – genauer gesagt, seit der Ansiedlung von 50 Flüchtlingen aus dem Tobrischen – immer häufiger zum Schauplatz bedenklicher Volksumtriebe geworden. Mit den fremden Leinewebern habe alles angefangen, hörte unser Korrespondent einen Beldenhager berichten und wurde im folgenden Gespräch in alle Einzelheiten einer Entwicklung eingeweiht, die für die Zukunft nichts Gutes erahnen lässt: Nachdem, wie gesagt, von den hochgeschätzten Damen und Herren der Allgemeinen Reichskanzlei zu Gareth (mit welchem Ausdruck wir uns erlauben, die Rede des Beldenhager Dorfschulzen zu korrigieren – die Red.) die Ansiedlung der Tobrier beschlossen wurde, zeitigten diese sich nicht bereit, den Anordnungen der Beldenhager Obrigkeit Folge zu leisten. Statt Dero Hochgeboren, Baron Gero von Beldenhag, den geforderten Tribut zu entrichten – eine bestimmte Menge feingesponnener Tuche, die ihre Dankbarkeit über die ihnen gewährte Gastfreundschaft in angemessener Weise zum Ausdruck brachte –, lieferten sie dem Zehntvogt nur den vierten Teil derselben ab, ohne sich – so der Vogt – für diese Missachtung ihrer Pflichten rechtfertigen zu können. Nachdem darum Moribert Ghune, der Sprecher der tobrischen Gruppe. die nach Beldenhager Sitte gültige Strafe an Haut und Haaren empfangen hatte, ließ man ihnen zwei Wochen Zeit, um das Versäumte nachzuholen. Doch vergebens: Nach einer Woche, in der kein Beldenhager die Fremden zu Gesicht bekam und allgemein davon ausgegangen wurde, sie gingen in aller Verbissenheit ihrer Arbeit nach, stellte sich heraus, dass sie geflohen waren – in die benachbarte Reichsstadt Eslamsroden, um dort um Aufnahme zu ersuchen.

Eine blutige Auseinandersetzung mit den Angehörigen der Eslamsrodener Weberzunft war die Folge, bei der vier der »tobrischen Pfuscher« das Leben ließen. Der Rest harrte in der Reichsstadt aus, ohne jedoch seinem Handwerk nachgehen zu können, und hielt sich mit Bettelei über Wasser – was im hungerleidenden Greifenfurt den Kampf ums nackte Überleben bedeutet. Nach wochelangem Ringen entschloss man sich, den Baron von Beldenhag um Wiederaufnahme zu ersuchen – zu welchen Bedingungen, das lege man ganz in die Hand des hohen Herrn und vertraue sich ansonsten der milden Göttin Peraine und der Fürsprache der guten Mutter Travia an. Der Baron von Beldenhag stimmte großherzig einer Rückkehr zu – sofern sich die Missetäter für zwei mal zehn Jahre verbürgten, das Dreifache der geforderten Stoffmenge abzugeben. So kehrten die Tobrier zurück – und legten alles daran, ihr Versprechen erfüllen zu können. Was jedoch dann geschah, sollten wir vielleicht besser den oben erwähnten Ghune, den aufzusuchen sich unser Korrespondent nicht zu schade war, selbst berichten lassen:

»Wir haben bis spät in den Abend hinein gesponnen, bis uns die Augen brannten wie Feuer – denn daran, dass unsereins sich Kerzen leisten könne, ist nicht zu denken. Und wir hätten es fast geschafft ... Wenn doch bloß Jana, unser Goldhändchen – die machte einen Faden, so g1att wie Kupferdraht – vom Kindbett wieder aufgestanden wäre ... Ach, und nach Jana, da hustete sich Kalman die Lunge aus dem Leib ... Es war, als hätten uns die Götter verflucht! Jedenfalls, als der edle Herr Vogt sah, dass zwei Ballen fehlten zu der vereinbarten Menge, da wurde er so wütend, wie ich es bei einem Herrn von Stand nie für möglich gehalten hatte. Reo, Janas Mann, nahm seinen ganzen Mut zusammen und setzte an, ihm das mit seiner Frau zu erzählen – als ob den hohen Herren so etwas interessieren würde! –, und dann geschah etwas, was ich mein Lebtag nicht vergessen werde: ›Dummes Pack – was müsst ihr euch auch vermehren wie die Karnickel‹, donnerte der Hochgeboren (oder wie immer man einen Herrn Vogt anredet) los, ›kein Wunder, dass die Bälger euch das Leben aus dem Leib saugen! Doch keine Bange. dagegen ist ein Kraut gewachsen. ihr Hungerleider‹, und er packte die beiden Zwillingstöchterchen von Reo, Janas Erstgeborene, warf sie auf seinen Karren. ›Da lassen wir dieses Gewürm halt von jemandem großziehen, der es sich leisten kann ...‹ Und so zog er von dannen, Reos weinende Kinder im Gepäck, und niemand hat sie seitdem mehr wiedergesehen.«

Mit dieser harten, doch gerechten Strafe (die Kinder wurden in Obhut einer Beldenhager Amme gegeben) nahm das Unheil seinen Lauf. Die Tobrier waren zunächst verzweifelt – und wurden dann, als sie die tröstenden Worte Ihrer Gnaden von Hartsteen vernahmen, die ihnen jüngst in jenem Augenblick den Hauptteil ihrer Aufmerksamkeit schenkte, von einer grimmigen Entschlossenheit gepackt. An die Stelle von hilflosem Schmerz trat die lodernde Hingebung an den Götterfürsten. »Plötzlich war alles anders geworden”, berichtet hierzu Moribert Ghune, »einfach, klar ... Und schön, so schön und rein wie das Gesicht der hochverehrten Gnaden von Hartsteen, die – das sieht man! – das Feuer der Erleuchtung in sich hat! Wie ich den Göttern danke für alles, was sie uns beigebracht hat. Wisst Ihr, ich habe mir früher mit dem Glauben immer schwer getan. Seit sie uns aus unserer Heimat verjagt haben, da habe ich gedacht – der Herr strafe mich für diesen Frevel! –, die Götter haben uns aufgegeben. Wie kann es die Frau Peraine mitansehen, wie sie unsere Felder verbrennen oder unser Vieh abschlachten, habe ich mir gesagt ... Und mit dem heiligsten Herrn Praios habe ich schon gar nichts anzufangen gewusst.« – »Und heute ist das anders geworden?«, hakte unser Korrespondent nach, den die Umtriebe der Greifenfurter Praiota allmählich mit Sorge erfüllten, woraufhin er prompt seine schlimmsten Vermutungen bestätigt fand. Moriberts Züge verhärteten sich, wurden leichenfahl, und er ballte die Fäuste. »Und ob!« stieß er zischend hervor. »Heute weiß ich, was ich zu denken habe. Das könnt Ihr Euren Lesern sagen, und wenn’s der Herr Baron persönlich liest! Ich weiß jetzt, was schlimmer ist als Prügel, Hunger und Tod – wenn man sich’s mit dem höchsten Herrn verscherzt, dem Herrn der Gerechtigkeit! Und eben das ist es, was wir dem Beldenhager schulden, Gerechtigkeit, das hat Ihro Gnaden uns erzählt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr! Die Tannweiler und die Minderbreugener (Weiler in der Baronie Beldenhag, Anm. d. Red.) haben wir gefragt, und die sind mit uns einer Meinung. Denen presst der hohe Herr auch das Blut aus dem Leib, damit er seinem Töchterlein die feinsten Festkleider nähen kann – jetzt, wo sie doch einem Adligen aus dem ... Alten Reich versprochen ist. Nur dem gerechten Herrn soll man geben, was ihm gebührt – das hat Ihro Gnaden wörtlich gesagt. Der Beldenhager aber will zu viel, er will auch das, was dem Herrn Praios gehört, und das machen wir nicht mit! Eines Tages, da wird etwas geschehen müssen ... Da wird man zur Burg hinauf gehen müssen, vor den hohen Herrn selbst treten, und mit ihm reden ... Jawoll, das wollen wir tun! Mit Ihro Gnaden auf unserer Seite und dem Herrn Praios zu unserem Schutz, da wird’s schon gelingen ... Und wenn es mein Leben kostet«, setzte er unvermittelt hinzu, ließ unseren verblüfften Korrespondenten einfach stehen und stampfte zur Tür hinaus. So bleibt uns wenig mehr, als dem Leser noch einmal unsere tiefe Besorgnis kundzutun. Schlimme Dinge brauen sich zusammen über Greifenfurt – doch komme, was wolle, der Bote wird es getreulich und prompt an seine Leserschaft weitertragen!

Nachsatz: Es sollte vielleicht an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Glaubensauslegung der Praiota von Hartsteen schon auf höchster Ebene zu Unmutsäußerungen geführt haben soll, die, so heißt es, bis an den Vorwurf der Häresie heranreichen. Da aber insbesondere aus dem Munde Pagol Greifax von Gratenfels’, des Wahrers der Ordnung Mittellande – eines persönlichen Vertrauten der Dame von Hartsteen, dessen Einschreiten für das Seelenheil des Verräters Gero von Hartheide sie nicht müde wird zu preisen – bisher keine offizielle Stellungnahme verlautete, wollen auch wir uns mit einer endgültigen Bewertung der Geschehnisse zurückhalten.


Aventurischer Bote Nr. 78

Mit freundlicher Genehmigung von Britta N.