Geschichten:Lagebeobachtungen - Das Gras wachsen hören

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In der garetischen Staatscantzley, in den Namenlosen Tagen

Es war drückend heiß. Der nächtliche Regen hatte kaum Abkühlung gebracht, sondern war auf dem heißen Stein der Hauptstadt verdampft und schwängerte die schwere Luft. Selbst die Vögel waren zu faul zum Singen, geschweige denn fliegen. Fliegen waren die einzigen Lebewesen, die sich in dem Miasma wohlzufühlen schienen, dass die Hitze, die Luftfeuchtigkeit, die versottende Kanalisation und die so genannten Bäche und Flüsse Gareths erzeugten – und seine Bewohner freilich, von denen jeder einzelne zum Himmel stank. Glücklicherweise hatten sich die meisten Bewohner dieser Tage in ihren Bau verkrochen und belästigten sich nicht gegenseitig.

Horulf von Luring lehnte missmutig am Fenster des Arbeitszimmers, das seit Jahrzehnten dem garetischen Staatsrat bzw. Cantzler zur Verfügung stand. Er war leicht, aber vollständig gekleidet, die Hitze machte ihm wenig aus. Er war so dünn wie ein Wüstenfuchs und schien seinen Metabolismus mit seiner hohen Stirn und seinen Ohren zu kühlen. Durch das offene Fenster drang kein Hauch in das Zimmer, das akkurat aufgeräumt und blitzblank geputzt war. Den Saustall seines Vorgängers hatte Horulf als Erstes beseitigen lassen. Dann hatte er sich in das Archiv begeben und all die unbearbeiteten Vorgänge entdeckt, die dort gelandet waren – aus Faulheit oder aus Ignoranz. Nächtelang hatte der neue Cantzler akribisch Dokument für Dokument gewälzt und ein Regal in der Stube seines Secretarius frei geräumt, um dort alles nach Dringlichkeit sortiert zu verstauen. Auch heute hatte er einiges abgearbeitet, nun aber die Lust verloren. Es war zu warm und zu dröge zum Arbeiten. Horulf betrachtete den Garten der Staatscantzeley und bewunderte die Penibilität, mit der der Gärtner das Unkraut zwischen den Gehwegplatten entfernt hatte. Wahrscheinlich war das noch Praiodans Anweisung gewesen.

Überhaupt: Praiodan. Seine Spuren waren allgegenwärtig in der Staatscantzeley, denn immerhin hatte er als erster Staatsrat hier gewohnt. Fast in jedem Raum waren die Arrangements seines Willens sichtbar – Schroeckh hatte sie nicht mit seinem Unrat verdecken können. Horulf hatte nicht vor, in der Cantzeley zu wohnen. Er hasste die Stadt schon jetzt aus tiefem Herzen und würde so schnell wie möglich nach Schloss Morgenfels umziehen. Vorher aber warteten diese ganzen Vorgänge auf ihn. Die Jahre unter Schroeckh waren vertane Jahre gewesen: Nur wenig war erledigt worden, das meiste hatte sich unter dilatorischem Ignorieren von selbst erledigt. Ein paar schnelle und effiziente Entscheidungen stachen da heraus, hier hatte man Schroeckh ganz offensichtlich entweder die Arbit abgenommen oder unter Druck gesetzt. Horulf würde seinen Vorgänger bei nächster Gelegenheit fragen. Irgendwann musste Schroeckh ja mal wieder nach Gareth kommen – selbst wenn er sein Amt als Reichsrat für das Kriegswesen mit ähnlichem Eifer schleifen ließ wie das als Staatsrat. Schroeckh – ein Rätsel.

Der andere Schroeckh klopfte an den Rahmen der Tür: »Exzellenz? Ihr habt Besuch.«

Horulf drehte sich verwundert um: »Wer kommt denn dieser Tage?«

»Es ist Grothan Spalotin, Exzellenz, der Sekretär Seiner Hochwohlgeboren«, informierte der Sohn des schrecklichen Schnecks. Ludemar von Schroeckh war bei Horulf als Secretär geblieben, bis man einen neuen gefunden hatte. Dann würde der Sohn in die Reichskanzlei überwechseln, mit irgendeinem schönen Titel, der mit ›Reich‹ begänne.

»Aha«, brummte Horulf, »warum nennt Ihr den Markvogt eigentlich nie beim Namen?«

Ludemar zuckte mit den Schultern, dann kam schon Spalotin herein, der feinsinnige und feingeistige Aranier aus dem engsten Gefolge des Markvogtes. »Rahja zum Gruße, Exzellenz«, fing der gleich an, den aranischen Dialekt wie ein Aushängeschild betonend.

»Setzt Euch«, wies Horulf auf die Gruppe aus drei Holzstühlen und dem kleinen Tisch, die ganz so karg aussahen, als hätte sie sein asketischer Bruder Praiodan angeschafft. Schroeckh soll die anderen Stühle eines kalten Winters sogar verbrannt haben!

»Danke, nicht nötig.« Der Aranier stand vor der Karte des Königreichs, die an einer Wand aufgespannt war. In viele Orte waren Nadeln gespießt, an denen Zettel hingen. manche wie Fähnchen in verschiedenen Farben, andere wie Notizzettel, die man an die Wand gepinnt hat. Fast alle Zettel waren mit einer sehr kleinen, gestochen scharfen Schrift versehen: Praiodan von Luring hatte hier Kommentare hinterlassen. Horulf hatte die Karte gesäubert, herabgefallene Zettel wieder angepinnt und alle auf Aktualität überprüft. Dann hatte er angefangen, selbst Fähnchen und Zettelchen zu setzen.

»Schöne Karte«, bemerkte Spalotin.

»In der Tat«, gab Horulf zurück, der sich seinerseits nun auch nicht gesetzt hatte, sondern zu Spalotin an die Tafel trat. »Sie gefällt mir auch prächtig. Habe sie in den letzten drei Wochen auch häufig studiert.«

»Hm, nicht ganz aktuell, würde ich meinen.« Mit diesen Worten zog Spalotin eine Nadel mit Zettel heraus und gab ihn Horulf: ›Schuldenstand Alriksmark beobachten!‹

»Im Gegenteil, Meister Spalotin! Da sind immer noch jede Menge Schulden, die ich im Auge zu behalten versuche. Manche Dinge ändern sich weniger schnell, als man wahr haben möchte.« Horulf legte die Nadel dennoch beiseite.

»Da habt Ihr recht, Exzellenz!« Spalotin betrachtete weiterhin die Karte.

»Was führt Euch zu mir, Meister Spalotin? Ich nehme an, dass Euer Herr Euch schickt?«

»Mehr oder weniger.« Spalotin beugte sich vor und drehte den Kopf, so dass sich sein Ohr direkt über den Fähnchen der Reichsstadt Eslamsgrund befand. Er blickte zur Decke und schien angestrengt zu lauschen.

»Was macht Ihr das?«, fragte Horulf unwirsch.

»Scht! Hört Ihr es nicht?«

»Was denn?«

»Das Gras! Ich höre das Gras wachsen!« Spalotin richtete sich wieder auf. Er wirkte viel größer als der schmächtige garetische Cantzler.

»Das ist … bemerkenswert«, sagte Horulf indigniert. »Das ist doch gewiss nicht, was Ihr mir mitteilen solltet, oder?«

»Doch, ganz genau das war es. Ich wollte Euer Interesse auf Dinge lenken, die sich nicht so schnell ändern, wir Ihr selbst gerade sagtet, Exzellenz. Und ich wollte Euch bitten, die bald erscheinenden Schriften eines bedeutenden garetischen Politikers zu subskribieren.«

»Wessen?«

»Alarich von Rathsamshausen. Erscheint im Druckhaus Andermann Nachf. Hochinteressante Lektüre – ich kenne mich da aus. So, jetzt muss ich wieder!«

Beim Hinausgehen schien er noch mal an der Karte zu lauschen, schüttelte den Kopf und machte »tststs«, ehe er dem Cantzler noch einen guten Tag wünschte.

Nachdem Spalotin gegangen war, zögerte Horulf lange und schalt sich albern und lächerlich. Doch dann ging er an die Karte heran und lauschte über Eslamgrund. Nichts. Kein Ton. Womöglich konnte er das Gras noch nicht wachsen hören?