Geschichten:Kumpanenhatz - Licht im Dunkeln

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Auf dem Gelände des Kloster Perainenfried im Travia 1038

Wenn Bruder Goswin redete, dann war alles an ihm in Bewegung. Seine rudernden Arme erinnerten Peraida an diese faszinierenden windgetriebenen Mühlen, die es in anderen Ländern geben sollte. Möglicherweise glichen seine Bewegungen auch das Schaukeln seines rundlichen Körpers aus, als der Laienbruder die Geweihte über die Unebenheiten führte, der diesem einsamen und selten besuchte Teil der Klosterbesitzungen zu eigen war.

"Hier ungefähr habe ich das Licht gesehen, Euer Gnaden", erklärte er großräumig und schnaufend. "Ich selbst glaube es ja nicht, aber das Volk redet schon, daß hier die Toten umgehen." "Dies ist immer noch geweihte Erde, die Toten ruhen hier", entgegnete die Geweihte, während sie eine kleine Böschung herabkletterten und gleichzeitig ihre Gewänder aus den Brombeerranken zu befreien versuchten. "Jedenfalls hoffe ich, daß es noch so ist", sagte sie zu sich selbst in Gedanken und fuhr mit Bestimmtheit fort: "Außerdem brauchen die Toten kein Licht!"

Sie schritten durch Gras und zwischen knorrigen Obstbäumen hindurch. Hier und da ragten kantige Steine - Grabsteine, wie sie wußte - aus dem Gras hervor. Diese sowie die hüfthohen und dicken Mauerreste, von Gras und Moos gekrönt, gaben dem Gelände eine eigentümliche Struktur. Dies alles war ein Zeugnis für den generationenübergreifenden Dienst an der Herrin Peraine und auch dafür, daß die Herrin Tsa an diesem Ort und seinen Menschen so manchen Neuanfang begleitet hat. Die Ziegen- und Schweineherden, und in neuerer Zeit die tobrischen Schafe, sorgten dafür, daß dieser Ort so blieb, wie er war und Peraine ließ hier seltene Kräuter gedeihen.

"Hier waren Leute. Das Gras ist noch niedergedrückt." Goswin hatte ein gutes Auge für solche Dinge und Peraida folgte ihm. Die Geweihte und der Laienbruder steuerten auf die Überreste eines kleinen Gebäudes zu. Die Mauern waren sorgfältig gefügt und obschon es seit Ewigkeiten ohne Dach hier stand sowohl Moos als auch Efeu dauerhafte Bewohner waren, bestand kein Zweifel, daß diese mannshohen Mauern auch die nächste Ewigkeit noch überdauern würden. Die Fensteröffnungen schienen dem Boden merkwürdig nah und Peraida war sich sicher, daß unter dem Gras ein Steinfußboden liegen mußte. Eine Wandnische war als Schrein hergerichtet und als die beiden nun im Inneren standen, wirke die Ruine wie eine Kapelle, die den Himmel als Dach hatte.

Eine fast heilige Stille umgab sie und Peraida ließ ihre Gedanken und ihren Blick schweifen. Steine waren in Greifenfurt zu kostbar, als das sie nicht wiederverwendet wurden. Der seelige Bruder Travik meinte einmal, wenn eine Burg in Abwesenheit ihres Besitzers - und viele greifenfurter Adlige waren für ihre Umtriebigkeit bekannt - weiter verfiel, dann konnte es gut sein, daß der benachte Adlige die Steine nützlich für die Ausbesserungsarbeiten an seiner Burg fand. Angesichts dieser Erinnerung war Schwester Peraida froh, daß die Adligen Klostermauern wie auch Klöstern im allgemeinen doch ziemlichen Respekt entgegenbrachten.

"Wie merkwürdig!" Es war Goswins Ausruf, der sie aus den Gedanken holte. Goswin hob eine Efeuranke vom Boden, die offenbar kürzlich abgetrennt und heruntergerissen worden war. Sein Ausruf galt jedoch vor allem dem Umstand, daß er die Stelle nicht finden konnte, wo sie abgetrennt wurde, wohl aber weitere abgetrennte Ranken. Peraida entdeckte ein kinderfaustgroßes Stück des Mauerwerks, welches kürzlich erst auf Gras und Moos gelandet sein mußte. Sie wendete den Granitbrocken hin und her und fand, wonach sie suchte: Kleine Riefen kündeten vom Werkzeug. Mit wenig Mühe entdeckten sie noch einige kleinere Bröckchen und Granitsplitter. Was sie nicht fanden, war ein entsprechendes Loch oder ein ähnlicher Schaden an der Wand. Sie zogen die Ranken an verschiedenen Stellen beiseite und Goswin kletterte trotz seiner Fülle hoch und begutachtete die Mauerkrone. Nichts. Nachdenklich blickte sie auf die alten Mauern unter dem Efeu und auf die verwitterten Inschriften in der alten Reichsprache, deren Bedeutung ihr nicht geläufig war. Ihr Bedauern, daß sie diese Zeilen nicht lesen konnte, blieb nicht lange. Ihre Aufgabe waren die Sorge um die Lebenden und das Land. Tote Sprachen waren eine Angelegenheit für die Praioten. Sie ließ den Efeu wieder zurückgleiten und säuberte mit Goswin den kleinen Schrein. Auf dem Rückweg blieb Peraidas Blick an einer Brombeerranke hängen. Sie beugte sich herab, pflückte vorsichtig etwas von einer Dornenspitze und sprach, mehr zu sich als zu Goswin: "Aber eines ist sicher: Diese toten oder weniger toten Besucher haben Kleidung getragen."