Geschichten:Korisandes Kletterpartie - In der Kammer

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Burg Oberhartsteen, Herbst 1041 BF

Als Korisande von Rothermund sich durch die Fensteröffnung gezwängt hatte, sah sie sich neugierig in der nur schlecht beleuchteten engen Kammer um und stellte enttäuscht fest, dass der geheime Raum nahezu leer stand: nur ein glatt behauener Steinblock, dessen achteckige Oberseite zu Hälfte in einer Wandnische verschwand, alte Spinnweben und oben unter der Decke leere Schwalbennester sowie ein paar schlummernde Fledermäuse, deren Hinterlassenschaften den steinernen Fußboden unter sich schon fast knöchelhoch bedeckten. Als sich ihre Augen zunehmend an die Düsternis gewöhnten, bemerkte sie einen einzelnen von dunkler Patina überzogenen Löffel auf dem Steinblock. Ob das einer aus der Sammlung des legendären Greifhold von Ennetbrück, einem vormaligen unter mysteriösen Umständen verstorbenen gräflichen Secretarius, war? Unter den Knappen ging das Gerücht, dass der Schreiber sogar einen Löffel besessen habe, an dem noch die Spucke Kaiser Retos klebte. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach dem Besteck aus und steckte es in ihre Gürteltasche. An dessen Stelle platzierte sie die mitgebrachte hässliche Brosche, die sie zum zwölften Tsatag von ihrer Tante geschenkt bekommen hatte.

Doch dann bemerkte sie die Bilder und Sprüche an den Wänden, mit Holzkohle gekritzelt oder gekratzt von anderen Knappen, die schon vor Generationen hier oben angekommen waren, ihr fremde und einige bekannte Namen, manche sogar mit der Nennung des Datums ihres Aufstiegs. Ohne lange nachzudenken suchte sich Korisande ein freies Plätzchen für ihren Namen und kratzte eifrig mit ihrem Messer drauflos. Als sie fertig war und ihr Werk zufrieden betrachtete, bemerkte sie noch etwas anderes: weitere Linien, Striche und Flächen, schon fast zur Gänze verblasst oder abgedunkelt. Ein Wandgemälde? Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die ausgewaschenen schemenhaften Figuren wirkten sehr altertümlich und waren kaum vollständig zu erfassen. So viel immerhin war zu erahnen, dass die dargestellten Szenen keine der typischen Heiligenlegenden oder vertrauten höfischen Geschichten zeigten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie jäh der Gedanke überkam, dass dies hier ein perfekter Ort für einen Geist oder einen schaurigen Spuk wäre. Aber nein, das flatternde Geräusch hinter ihr rührte nur von den Vögeln, die in Höhe des Fensters um den Turm ihre Kreise zogen.

Dennoch, zu lange wollte sich Korisande hier nun nicht mehr aufhalten. Den Dienst beim Auftragen des Abendessens hatte zwar Alwene von Hartsteen-Rathsamshausen inne, aber es war nie sicher, dass nicht auch die anderen Knappen zusätzliche Aufgaben übertragen bekamen. Sie würde die Hausritterin Eilind von Allingen in einer ruhigen Minute fragen, ob ihr bei ihrem damaligen Besuch der Turmkammer diese seltsamen Figuren ebenfalls aufgefallen waren. Korisande prüfte noch einmal, ob der silberne Löffel gut in ihrer Gürteltasche verstaut war und schwang sich durch die Fensteröffnung nach draußen, um den nicht minder gefährlichen Rückweg anzutreten.


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Texte der Hauptreihe:
Herbst 1041 BF früh am Abend
In der Kammer
An der Mauer


Kapitel 2

Autor: Steinfelde