Geschichten:Im Sturm - Das Volk Natzungens

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Stadt Natzungen, Marktplatz, Nachmittag des 30. Efferd 1030 BF


Ruhig blickte die junge Baronin im Schutz ihrer Kapuze über die Menge des Marktreibens. Viele Befehle hatte sie in den letzten Tagen erlassen. Alle Pferde in den großen Ställen der Stadt hatten aus den geräumigen Boxen ausziehen und sich mit engen Ständern auseinandersetzen müssen. Heu und Stroh war in großen Mieten witterungssicher in Hinterhöfen untergebracht und so die Heuschober geleert worden. Boten zu allen Höfen der Umgebung hatten die Bauern angewiesen zum Markt zu erscheinen.

Die Menge auf dem Marktplatz war fast nicht zu übersehen von ihrem Standort unter einem Torbogen – doch schienen viele der Bauern dem Ruf der jungen Frau gefolgt zu sein. Ein Marktschreier kündigte sie gerade an – sie holte tief Luft, straffte sich und streifte den Mantel, der sie bisher verhüllte von den Schultern und gab ihm einem der Gardisten, der bei ihr stand. Unter dem Mantel kam ihre alte Uniform, ergänzt mit einer Schärpe mit dem Wappen Natzungens zum Vorschein. Dann trat sie vor und ging im Schutz ihres kleinen Gefolges auf die Empore zu, auf der der Marktschreier und der Vogt schon standen.

Vereinzelt klangen Hochrufe auf, ein paar Bewaffnete schlugen sich beim Anblick der Uniform Beifall bekundend auf die Brust. Tanira wartete ab, bis Ruhe eintrat, räusperte sich kurz und trat an den Rand der Empore. Laut klang ihre Stimme über den Marktplatz:

„Volk von Natzungen,

vor drei Jahren musstet ihr den Tod der Baronin Maline von Natzungen betrauern. Vor wenigen Wochen den Tod der Baronin Aldare von Natzungen, meiner Kusine.

Viele mussten außerdem den Tod von Angehörigen beim Ansturm des Bösen aus dem Osten auf das Herz des Reiches betrauern. Seit euch vergewissert, dass ich mit euch fühle. Auch ich trauere – um Aldare von Natzungen und viele gute Kameraden, die ich beim Dienst im Reichsheer kennen lernte und wieder verlor.“

Sie senkte kurz wie im Gedenken an all die Toten den Kopf. Viele in der Menge folgten dem Beispiel.

„Boron möge all ihren Seelen Ruhe schenken!“ Sie blickte wieder auf und über die Menge.

„Doch bei all den Verlusten dürfen wir uns selbst nicht vergessen!

Volk von Natzungen, viele von euch leben in diesem Landzug, seit meine Familie dieses Land mit der Hilfe eurer Familien urbar machte. Eure Familien und die meine gründeten diese Stadt. Seit annähernd 700 Götterläufen lebt ihr unter Herrschaft dieser, meiner Familie. Immer war den Natzungens das Wohl ihrer Untergebenen wichtig. Ihr seit Teil unserer Familie!“

Tanira ließ ihre Worte kurz wirken ehe sie fortfuhr.

„Vor Tagen musstet ihr ein Pamphlet lesen, dass euch glauben machen wollte, ich wäre keine legitime Tochter dieser Familie. Doch dort steht ein Mitglied der Familie meines Vaters – er wird euch sicher bestätigen, dass dies eine Lüge ist.“

Sie deutete kurz auf Edorian von Wulfensteyr, der die Empore nach ihr erklomm. Er nickte zustimmend zu ihren Worten. Die junge Frau fuhr sich wieder an die Menge wendend fort.

„Volk von Natzungen, um die Grafschaft Hartsteen buhlen zwei Familien, noch ist nicht sicher, welcher Anspruch der gerechtere ist, noch hat einer von beiden einen richtigen Lehnseid gegenüber der Kaiserin geleistet. Meine Kusine Aldare erlegte mir auf, euch, unsere Untertanen, um jeden Preis aus diesem Konflikt herauszuhalten. Und ich werde mein Bestes tun, um diesen ihren Wunsch zu respektieren und zu erfüllen.

Das Haus Hartsteen setzte Bodebert von Windischgrütz ungerechtfertigt als Baron ein. Dies ist ein Verstoß gegen geltendes Recht. Die Hauptlinie der Familie Natzungen ist mitnichten erloschen, sonst würde ich nicht hier vor euch stehen.

Nicht ich bin die Hochstaplerin, wie der Windischgrützer behauptet, sondern er!

Volk von Natzungen, ich bitte euch um die Treue, die ihr seit langer Zeit meiner Familie entgegenbringt. Ich bitte euch um euer Vertrauen und eure Hilfe.“

Wieder wartete sie einen kurzen Moment – das Volk hatte ihre Rede mit zustimmendem Gemurmel bisher verfolgt. Ihre Bitte um Treue, Vertrauen und Hilfe schien auf fruchtbaren Boden zu fallen. Ermutigt durch die Reaktionen hob Tanira wieder die Stimme.

„Volk von Natzungen, Bauersvolk von Natzungen,

ich war im Heer, diente Kaiserin Rohaja mit meiner ganzen Kraft, indem ich den Nachschub für ihre Kämpen sicherstellte. Ich habe mich immer bemüht, dem Volk nicht zuviel zu nehmen, habe aber auch ansehen müssen wie Andere die Gehöfte gänzlich plünderten und nichts zum Leben überließen.

Ich will es euch ersparen, vom Kriegsvolk, das schon von Norden auf uns vorrückt eurer Vorräte beraubt zu werden. Ich biete euch die Lagermöglichkeiten der Stadt an. Ich habe Platz schaffen lassen für euer Vieh, für euer Getreide, welches euch über den Winter bringen soll. Auch für euer Heu wird Platz bereitgestellt werden, sodass ihr durch diesen Konflikt nichts verlieren werdet.

Für jede Ware, die ihr an uns veräußern wollt, werdet ihr gerechte Preise erhalten. Jeder, der Hilfe benötigt, seine Vorräte herbeizuschaffen, soll sich bei den Bütteln melden – jeder wird die nötige Hilfe erhalten.

Volk von Natzungen, steht mir in dieser schweren Zeit bei, damit wir in Bälde in eine bessere Zukunft blicken werden! Gemeinsam sind wir stark!“

Beifall brandete durch die Menge – Tanira schien den richtigen Ton getroffen zu haben. Sie lächelte der Menge noch eine kurze Zeit zu, ehe sie sich abwendete und die Empore verließ. Sie verhinderte, dass ihr Gefolge das Volk von ihr abschirmte und brauchte lange Zeit ehe sie ihre Amtsräume wieder erreichte. Dort ließ sie sich seufzend hinter ihrem Schreibtisch nieder und blickte ihren Vogt, der sie nachdenklich musterte an.

„Was ist?“

„Denkt ihr es ist gut, sich dem Volk so auszuliefern?“

Sie verdrehte die Augen. „Gerstungen, ich habe im Krieg viel gesehen – mancher Ritter floh vor dem Grauen, während ein Bauer ein sterbendes Pferd seines Herrn bis zum Tode verteidigte. Unterschätzt nie die Kraft und die Loyalität des Volkes. Doch nun lasst mich bitte eine kurze Weile allein und lasst mir ein einfaches Essen auftragen.“

Der Vogt nickte nachdenklich und verließ das Zimmer – sorgenvolle Gedanken durchzogen seinen Kopf. ’Die lässt sich noch weniger führen wie Aldare’