Geschichten:Fredegasts Jahr

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Auf dem Ingerimmturnier zu Eslamsgrund

Die Tribüne war bereits voll besetzt und ächzte unter der Vielzahl geputzter und ausstaffierter Gäste – Damen und Herren des Adels, aber auch einige reiche Kaufleute aus der Reichsstadt, aus Gareth und von weiter her, die sich adliger gaben als so mancher Spross aus aristokratischem Urgestein. Manchen sah man die Herkunft schon gar nicht mehr – etwa der Familie Herzgrund, die zwar ihren Adel in der Anfangszeit des Kaiserreichs erwarben, doch heute verbürgerlicht sind. Fast »vergeckt«, wie sich ein rauer Ritter aus Hartsteen äußerte, dessen beide Arme bandagiert waren, weil er vor kurzem noch ernsthaft gefochten hatte.

Auf dem Sand der Kampfstätte tummelten sich Ritter und Knappen, Dienstleute, Mägde und Knechte, alles lief durcheinander, denn mit dem heutigen letzten Lanzengang sollte auch der Sieger gekürt werden, eben jener Ritter, der seinen Namen der ganzen Turniersaison geben würde. Viele Favoriten waren in diesem Jahr nicht dabei – so fehlten etwa Nimmgalf von Hirschfurten, Bartel Helmdahl von Stolzenfurt oder Thorman von Böckelburg, weil sie alle auf dem Reichskongress zu Weißenstein im Windhagschen weilten, zu dem sie rechtzeitig hatten aufbrechen müssen. Manche hatte der Reichstag als Stimmberechtigte gerufen, andere reisten im Gefolge ihrer Herrschaften, um deren Reise sicherer und deren Auftreten ehrenvoller zu gestalten. Der findige Glaubert von Eschenrod hatte vorgehabt, sowohl Turnier als auch Reichskongress mitzunehmen, doch warf ihn bei einem Ausritt in die östliche Grafschaft Eslamsgrund sein Pferd ab, das vor einem riesigen Haufen Ogerdung scheute, und er brach sich das Bein. Die Sänger dichteten:

Glaubert bin ich, so ich heiße,
bin ein stolzer Reiterheld.
Doch nach Sturz auf weitem Feld
Sitz ich halstief in der Scheiße.

Kein Turnier gibt’s nun für Glaubert,
denn es ist hier ja verboten,
dass man löst den Knochenknoten
durch 'nen Spruch, den jemand zaubert.

Eben schüttelte Seginhardt Raultreu von Ehrenstein einem der Ritter die Hand, denn er war es, der als Onkel des Grafen dem Turnier vorsaß. Dass Graf Siegeshardt fehlte, war symptomatisch für dieses Turnier: Er weilte in Beilunk und befreite die Sonnenmark, hatte dort sogar geehelicht, ohne die Familie hinzuzuladen; dass die Reichskongressteilnehmer fehlten, kam hinzu. Die Rondra-Geweihten waren in Perricum oder gar Warunk – man las es im Boten; und ein letztes Kontingent üblicher Gäste stand bei Puleth im Felde und kämpfte – wahrscheinlich gegeneinander.

Der vom Turnierpräses Seginhardt freundlich begrüßte Ritter war niemand anderes als Fredegast von Gauternburg, der ganz überraschend noch im Rennen war und sich für die finalen Anläufe vorbereitete. »Dann viel Glück, Herr Ingerimmsritter!«, rief Seginhardt noch über die Schulter, dann begab er sich zur gräflichen Tribüne, die vor dem Nieselregen – auch das nicht optimal bei diesem Turnier der Mittelmäßigkeiten – durch einen Baldachin geschützt war. Darunter saßen die Ehrengäste, so etwa Raulgard von Ehrenstein, die Gattin Graf Luidors, oder Pfalzgraf Aldemar von Rathsamshausen. Es war eng unter dem Zelt, wie Seginhardt feststellte, als er sich gesetzt hatte, und es sollte noch enger werden:

»Die Götter mit Euch! Ist hier vielleicht noch ein bisschen Platz? Ja, bestens, wenn Ihr noch ein Stückchen rutschen würdet, Verehrteste?« In prunkseidenem Wams in schreiendem Blau, ein ebensolch farbiges Barett auf dem Haupte, eine orangefarbene Joppe auf der Schulter, zwängte sich Horbald von Schroeckh in die erste Reihe. »Ja, man kann recht gut gucken hier!«

»Verzeiht, Exzellenz, Ihr vielleicht, aber könntet Ihr bitte wenigstens Barett und Feder vom Kopf nehmen?«, beugte sich Gräfin Rumhilde von Reichsforst vor.

»Na, wenn es sein muss.« Schroeckh zog das Barett von den verschwitzten Haaren und zwirbelte es kurz in der Hand. Dann rief er: »Gsevino, komm hergekrochen und nimm mit den Hut ab!« Der schrullige Schreiber tat, wie ihm geheißen, doch kroch er nicht. »Gsevino, runter mit dem Buckel, es geht los! Aaaahhhh! Domna Raulgard seht Ihr es, dort: Wolfhard von Lettich reitet gegen Gerion von Kupfergrab! Und ... rrrrummsfallera! Haha! Seht Ihr’s! Da liegt der Bengel unten.«

»Exzellenz? Exzellenz? Exzelle-henz!«

»Was?«, drehte sich Schroeckh nach Gräfin Rumhilde um. »Was gibt es denn?«

»Ginge es ... ein wenig leiser? Ein bisschen ... vornehmer?«

»Natürlich, Hochwohlgeboren. Ich ... ha! Jetzt kommt Fredegast! Verzeiht«, sprach er und wandte sich wieder dem Geschehen zu: »Heißa! Das tat weh! Oho, nun jammere nicht so. Gsevino: Wer ist die Memme?«

»Das ist Yasinthe von Brachenhag, Exzellenz, und mir scheint, sie hat da einen ganz hässlichen Splitterbruch ...«

»Papperlapapp, Gsevino. Ich kenne mich da aus.« Zum Kampflatz aber rief er durch die angelegten Hände: »Memme! Memme! Heul doch!«

Rumhilde von Luring verließ in diesem Moment die Tribüne: »Ich gehe zu den Luringer Mägden und Knechten, da ergibt der Stallgeruch noch Sinn«, raunte sie ihrem Nachbarn zu, Pfalzgraf Aldemar. Jener nickte verständnisvoll und blies lautstark Luft durch seinen Bart, dass dessen Enden flatterten.

Eben zerrte man einen weiteren unterlegenen Ritter vom Kampfplatz, scheppernd verlor der Ohmächtige dabei diverse Rüstungsteile. »Du kannst nach Hause fahren!«, sang Schroeckh und rieb sich dann aufgeregt die Hände: »Noch zwei Runden, Gsevino, dann kennen wir den diesjährigen Sieger! Ich habe ja auf Gerobald von Ruchin gesetzt, Gesvino.«

»Ach ja?«, mischte sich nun Pfalzgraf Aldemar ein, »auf Ritter Gerobald? Wusstet Ihr nicht, dass er einen lahmen Arm hat?«

»Wie, er hat einen lahmen Arm?«, wunderte sich Schroeckh und wandte sich dem Pfalzgrafen zu, der über seine Schulter sprach.

»Na klar, weil er doch das Banner Garetiens sonst immer trägt, als Bannerträger des Königsreichs, das zehrt. Überhaupt ist es eigentlich sehr anstrengend, wenn man die Fahne des Königreichs hochhalten muss, wisst Ihr, aber wem diese Ehre zuteil wird, der muss sich ihrer auch würdig erweisen.« Die letzten Worte kamen fast schon zornig gezischt aus dem Mund Aldemars, doch Schroeckh schien es nicht zu bemerken.

»Dann glaubt Ihr nicht, dass er gewinnen kann?«

»Oooooh!« rief das Publikum, als Gerobald den Firunritter Wolfhard von Lettich aus dem Sattel stieß, doch Schroeckh nahm es kaum wahr.

»Ihr müsst wissen, Dom Aldemar, dass ich eine ganz erkleckliche Summe auf Gerobald gesetzt habe.« Schroeckh fuhr sich besorgt mit der Zunge über die Lippen.

»Aber sagt, Exzellenz, warum seid Ihr eigentlich hier und nicht in Weißenstein auf dem Reichskongress?«

»Ach, was soll ich denn da? Mir reichte es vor zwei Jahren schon, als die Greifenfurter jammerten und die Tobrier und wie sie alle heißen, diese Schwarzen Lande.«

»Greifenfurt ist n...«, doch der Pfalzgraf wurde unterbrochen: »Wisst Ihr, da kommen diese ganzen Adligen zusammen und reden den ganzen Tag von Politik, von Steuern, von Gesetzen, Privilegien – und die Hälfte auch noch auf Bosparano! Das hält man ja im Kopf nicht aus! Und außerdem: Was soll schon sein: Ich glaube nicht an das Haffax-Märchen! Und Almada? Das ist mir auch egal, seht: Den Wein importieren wir ja doch. Und was diesen Vertrag angeht, diesen Waldlether Vertrag ... was? Weidleth? Ja, meinte ich ja ... Der ist doch schon Jahre alt! Kaum noch wahr, nicht wahr? Nein, nein, die anderen sollen sich mal die Köpfe heiß reden, ich habe wichtigeres ...«

»Jaaa! Fredegast! Fredegast! Fredegast!« Ein ohrenbetäubender Jubel erscholl, die Menschen riss es von den Sitzen, alle applaudierten und schwenkten ihre Mützen und Hüte! Das Turnier hatte einen Sieger – und obwohl es jede Menge Verlierer gab, war da keiner, der es diesem Sieger nicht gegönnt hätte: Endlich hatte der Grüne Ritter ein Turnier gewonnen! Und es würde seine Turniersaison werden: ›Fredegasts Jahr‹!

Gsevino nahm zwei Wettscheine aus seiner Tasche: ›Der Staatsrat hat’s verwettet, all das geliehene Geld! Der Trottel. Der unheimliche Mann, der ihm den Beutel gab, hatte also recht‹, dachte Gsevino und strich seinen eigenen Wettschein schön glatt. Darauf stand: »Fredegast von Gauternburg. Quote 12:1. 2 Dukaten«