Geschichten:Erst kommt der Winter

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Garten der Alten Residenz; wie abgesägte Baumstümpfe liegen kunstvoll behauene Steine im Kreis. Auf ihnen sitzen Ginaya von Luring-Gareth und Oldebor von Weyringhaus. Die ersten Blätter an den Büschen, die teilweise die Sicht auf diese Sitzgruppe versperren, haben sich gelblich verfärbt: Der Herbst kommt.

»Der Herbst kommt, Dom Oldebor.«

»Ja, Domna Ginaya, ja. Der Herbst ...«

»Was bedrückt Euch? Ist es ... dass Ardo ...?«

»Ja, auch. Natürlich. Aber es ist eher das Ganze, wisst Ihr? Die Zeitläufte, in denen wir leben, die Ereignisse, dieses ... ganze Schlamassel.«

»Schrecklich, das finde ich auch. Wenn ich bedenke, dass es die Alriksmark kaum getroffen hat, als die Galotteska über die Stadt herfiel. Und dennoch: Immer noch sieht man die Spuren der Verwüstung, die von den paar Vaganten angerichtet wurden. Bei Euch in der Raulsmark war es freilich viel schlimmer.«

»Ja, schon. Das ist es aber gar nicht. Es ist mehr ... dieser Herbst, wisst Ihr, der ist wie mein eigener Herbst. Die Blätter fallen ringsum, ich habe mich auch schon verfärbt – seht, Ginaya, das Haar ist grau –, und lange wird’s nicht dauern, dann wird Winter sein, ewiger Winter.«

»So ist der Lauf der Welt. Ja. Ja.«

»Nein, das meine ich nicht: Schaut, was uns das letzte Jahr gebracht hat, ganz abgesehen von den Zerstörungen, dem Krieg, dem Zerfall, der ganzen Unordnung. Seht, was aus uns geworden ist: Wir sind die letzten, die noch da sind! Vor anderthalb Jahren, zum Neujahrsfeste, da waren wir noch ein ganz anderer Kreis, doch sind sie alle nun gegangen. Fort, verweht, wie der Sommer.«

»Aber, Dom Oldebor, das Jahr des Feuers hat doch weitaus mehr Opfer gekostet, weitaus mehr zerstört! Dass im Zedernkabinett die Lücken ...«

»Gewiss, gewiss. Nur fällt es mir da besonders auf: Eran von Gareth – tot. An Entkräftung gestorben, als er auf der Flucht vor der Galotteska war. Arnwulf, der ritterlichste von uns, in Gareths Gassen gefallen. Ich habe seinen Leichnam gesehen und empfohlen, ihn seiner Gattin nicht zu zeigen, schrecklich! Praiodan – hinterrücks gemeuchelt! Er hat tagelang in seinem Stadthaus gelegen, weil alle dachten, er sei rechtzeitig aus der Stadt geflohen. Er! Grauenhaft. Oder Berdin von Vierok – erschlagen in seinem Weinkeller! Und nun Ardo ... Solange es ihn gegeben hat, lebten die alten Zeiten noch. Aber nun?«

»Ihr seid schwermütig, Dom Oldebor, das wundert mich. Ihr seid doch sonst so ausgeglichen.«

»Ach, das ist nur ein Moment wie dieser. Auf diesen Steinen saßen Praiodan, Ardo und ich häufig zusammen. Ardo bemerkte oft nicht, wenn Praiodan seine Spitzen losließ, aber ich verstand sie. Ich verstand sie beide – den rauen Ardo und den scharfzüngigen Praiodan. Wisst Ihr, Domna Ginaya, wenn die Jahreszeiten des Lebens an einem vorüberzeihen, dann bemerkt man die Veränderungen oft gar nicht gleich. Erst beim zweiten Hinsehen, wenn es einen so plötzlich fröstelt. Und dann sieht man rechts und links alles niedersinken.«

»Es entsteht doch aber auch Neues, Dom Oldebor, das ist der Lauf der Zeiten: Altes vergeht, Neues entsteht.«

»Gewiss, gewiss. Aber wie ist dieses Neue? Ist es besser? Natürlich weiß ich, dass die Alten ihre Zeiten immer für die Goldenen halten und den Jungen nichts zutrauen; und irgendwann sind die Jungen die Alten, und es geht ihnen genauso. Aber sagt, Domna Ginaya, findet Ihr gut, was hier an Neuem entsteht?«

»Na ja, es kommt ja alles ziemlich plötzlich. Und, na ja ...«

»Plötzlich, genau: Innerhalb eines Jahres nur müssen wir uns an den Herbst gewöhnen, zumindest an den eigenen. Und wer erlebt den Frühling – um im Bild zu bleiben? Horbald von Schroeckh beispielsweise.«

»O je, da habt Ihr recht.«

»Wie oft hat er uns zusammengerufen? Was macht er eigentlich? Was will er? Warum können wir nicht wie früher die Belange des Königreiches führen, ordnen, es regieren an der Krone statt? Warum hält er uns außen vor? Wenn er das tut. Vielleicht ist er auch nur faul, und darum beruft er die Burggrafen so selten zusammen.«

»Faul ist er. Und dumm, Dom Oldebor, saudumm. Unlängst traf ich ihn im alten Reichsarchiv – ich wollte sehen, ob ich nicht in den Kellern noch ein paar Dokumente finden würde, die die Alriksmark beträfen. Da steht der Trottel an der Pförtnernische, wo man sich früher eintragen musste, Ihr wisst schon; steht also an der Nische, die vollkommen ausgebrannt ist, und fragt mich, wann denn das Archiv heute wieder öffnen würde. Selbst ein blinder Troll mit Blutigem Rotz hätte es besser gewusst.«

»Wirklich nicht besonders gewandt. Wie aber schafft er es dann, doch immer wieder präzise zu sein, brillant aufzutreten? Denkt an seine Verteidigung, als er die Klage Nimmgalfs von Hirschfurten abstreifte. Oder als er den Markvogt vor ein paar Wochen im Regen stehen ließ, als der von den Marktprivilegien in der Kaisermark anfing. Ich muss noch darüber nachdenken.«

»Ich auch, Dom Oldebor, ich auch. Dabei habe ich keine Lust, mich mit ›dem Schneck‹ zu befassen. Was anderes: Reist Ihr zur Hochzeit des Ehrensteiners?«

»Ja, das werde ich. Von den Burggrafen ist ja sonst keiner da, und den Kieselburg will ich dort auch noch treffen.«

»Kieselburg?«

»Das ist der Burggraf auf dem Gerbaldsberg. Der Drei-Schwestern-Orden hat ihn nach der Heimesnacht zum Vogt bestimmt für die Gaben und Spenden, die der Adle versprochen hat. Ein einnehmender Mann, aus Greifenfurter Familie. Machte auf mich einen sehr anständigen Eindruck. Ich will mit ihm darüber sprechen, wie ich ihm die Traviagaben der Raulsmark zukommen lassen kann – immerhin ein kleines Vermögen, das will ich nicht auf den unsicheren Straßen ... Ihr wisst schon. Große Verantwortung für einen Burggrafen im fernen Eslamsgrund. Wahrscheinlich gehen durch seine Finger gerade mehr Dukaten als durch die Schleusen der Reichsverwaltung. – Außerdem hoffe ich, meinen Schwiegersohn dort zu sprechen, den Baron von Höllenwall. Ich muss ihn dringend nach dieser Verbindung befragen: Graf hält um Hand einer Bannstrahler-Ritterin an. Lebte Luring noch, dann könnte ich ihn fragen. Aber nun ... im Herbst ...«

»Es wird wieder Frühling, Dom Oldebor, seid sicher.«

»Mag sein. Aber auf den Herbst folgt erst der Winter. Erst der Winter.«