Geschichten:Entsetzen und Hass

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Der Geweihte des göttlichen Raben bat Selinde, vor dem Zimmer der Äbtissin zu warten. Ein Umstand, der der Adligen, die es vor Neugier ob der anscheinend neuen Erkenntnisse kaum aushielt, alles andere als leicht fiel. Nach einer gefühlten Ewigkeit - welche allerdings deutlich kürzer war - rief Kalina Niodas die Baroness endlich herein und bat sie mit stummer Geste, auf einem der Stühle im Raum Platz zu nehmen.

"Bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, muss ich euch noch einmal fragen: Seid ihr euch, was die Pilze angeht, absolut gewiss?", fragte die Geweihte mit einer Grabesmiene.

"Ja, das bin ich. Auf meinem Zimmer habe ich auch eine sehr gute Zeichnung dieser merkwürdigen Gewächse liegen, die ich euch gerne überlassen kann, damit ihr euch selbst überzeugen könnt."

"Das wäre sicherlich das beste; ein Novize wird sie später abholen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ihr euch in dieser Angelegenheit sehr sicher seid, gehe ich im folgenden von der Richtigkeit eurer Beobachtung aus." Für einen Moment schloss Kalina die Augen und versuchte im Geiste, die passenden Worte gegenüber der Baroness zu finden.
"Nun, wie ihr sicherlich wisst, sind den Zwölfen allerlei Gewächse als ihnen heilige Pflanzen zugeordnet. Dies gilt, im unheiligen Sinne, allerdings auch für den Gott ohne Namen. Seine sind besagte Pilze, die von Kundigen als 'Rattenpilze' bezeichnet werden."

Die Adlige starte die Vorsteherin mit fassungslosem Blick und offenem Mund an.

"Ich kann euer Entsetzen gut verstehen. Nur Diener des Dreizehnten sind in der Lage, Rattenpilze zu züchten und für ihre frevlerischen Zwecke zu nutzen. Offenbar wurde eure Schwester über einen längeren Zeitpunkt mit geringen Mengen dieser Pilze vergiftet. Hätte man ihr mehr davon verabreicht, so wären die Folgen, so schwer es auch vorstellbar erscheint, noch weitaus schlimmer gewesen - für ihre Gesundheit ebenso wie für ihre Seele."

Selinde fixierte Kalina immer noch mit sichtlichem Entsetzen, hatte aber zumindest ihren Mund wieder geschlossen.

"Aber es besteht noch Hoffnung. Jetzt, wo wir die Ursache für den Irrsinn Frau Elissas kennen, können wir - mit der Hilfe und dem Segen des Herrn Boron - versuchen, ihren umwölkten Geist wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Doch ich muss euch warnen: Ein solcher Prozess kann sich über einen längeren Zeitraum hinziehen und es ist ungewiss, ob sie sich jemals vollständig zu erholen vermag."

Die Adlige schluckte kurz, bevor sie mit belegter Stimme anmerkte:
"Aber immerhin, es besteht Hoffnung. Das ist weit mehr, als ich vor eine Stunde auch nur zu träumen vermochte."

"Aber es gibt noch etwas anderes zu klären, etwas weitaus bedeutsameres. Wer ist der Frevler, der eurer Schwester diese unheiligen Gewächse verabreicht hat? Ihn gilt es gleichfalls zu finden und der Gerechtigkeit der Zwölfe zuzuführen."

"Hm, diese widerlichen Pflanzen wurden, so hat es mir der Vogt geschrieben, kurz nach der fluchtartigen Abreise des Burgkochs gefunden. Aber Egtor, so sein Name, ist zwar ein ausgezeichneter Koch, ansonsten aber von eher schlichtem Gemüt. Zudem steht er schon seit vielen Jahren in Diensten meiner Familie."

"Lasst euch davon nicht täuschen, meine Liebe. Die Diener des Rattenkinds wissen sich geschickt zu tarnen und ihr götterloses Tun hinter einer Larve von Aufrichtigkeit, Loyalität, Unauffälligkeit und Frömmigkeit zu verbergen. Und sie sind zumeist sehr geduldig, was die Umsetzung ihrer unheiligen Pläne angeht. Wir werden, sobald wir eine Beschreibung des Kochs von euch erhalten haben, umgehend nach ihm suchen lassen. Vor dem Licht der Zwölfe wird er sich auf Dauer nicht in den namenlosen Schatten verbergen können."

Selinde nickte nur stumm. In was für einen Abgrund war sie da nur gestürzt? Als ob ihre mordlüsterne Verwandtschaft nicht schon genug wäre. Nun auch noch namenlose Umtriebe. Und weit und breit niemand, dem sie sich anvertrauen oder um Hilfe bitten könnte.

Kalina blickte die Adlige fast schon mitleidig an.
"Ich denke, was ihr vor allem anderen jetzt braucht, ist Göttervertrauen. Göttervertrauen und Schlaf. Ich habe hier eine Teemischung für euch, die euch eine tiefe, erholsame Nachtruhe schenken wird. Sie wirkt sogar, wenn ihr sie in kaltem Wasser auflöst. Danach werdet ihr mit einem wachen Geist und ausgeruhtem Körper eure weiteren Schritte planen können.

Mit einem knappen Nicken nahm die Baroness das Beutelchen entgegen.
"Ich danke euch, euer Hochwürden. Ich hoffe, ihr verzeiht, dass ich nun erst einmal alleine sein möchte, um meine Gedanken zu ordnen. Bitte haltet mich auf dem Laufenden, wenn sich der Zustand meiner Schwester bessern sollte oder der verfluchte Koch gefunden wurde."
Selinde nahm vor dem Gehen einen Griffel und ein Blatt Pergament zur Hand und verfasste eine, soweit möglich, akkurate Beschreibung Egtors, den sie allerdings schon seit geraumer Zeit nicht mehr persönlich gesehen hatte.

Die Äbtissin umschloss die Hände ihres Gastes mit den eigenen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
"Mit der Hilfe der Zwölfe, Boron voran, wird sich bald alles zum Guten wenden; habt Vertrauen. Und natürlich gebe ich euch umgehend Kunde, wenn sich etwas Neues eure Schwester oder den Ketzer betreffend ergeben sollte."

Mit einer eigentümlichen Mischung aus Hoffnung und Entsetzen machte sich die Baroness auf den Rückweg zu ihrem Quartier.


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Ugdalf hatte in der Nacht kaum geschlafen, galt es doch wichtige Entscheidungen zu treffen. Die erste: Selinde muss sterben. Die zweite: Er würde es selbst tun, schon in der nächsten Nacht. Keine weiteren Mitwisser, keine lästigen Zeugen und vor allem keine Vorhaltungen oder Maßregelungen seitens seiner Mutter mehr.
Dieser Zug der Schwäche Fredegards kam dem Oberst nicht nur deplatziert vor, nein, er war auch riskant. Wenn seine Schwester wirklich eine Gefahr darstellte, dann sollte man dieses Geschwür sofort ausbrennen und ihm keine Gelegenheit geben, sich weiter auszubreiten. Für familiäre Sentimentalitäten war nun kein Platz mehr!
Mit zunehmender Ungeduld erwartete er die Nacht, um in ihrem Schutze zur Tat zu schreiten.
In einem grauen Überwurf gehüllt und mit über dem Kopf gezogener Kapuze schlich er zum Hotel, in dem seine ach so kluge Schwester abgestiegen war. Mutter war sie betreffend schon immer voreingenommen gewesen.
Jede Deckung ausnutzend und sich immer wieder sorgsam umschauend hatte Ugdalf schließlich die Herberge erreicht. Jetzt kam der schwierige Teil. Möglichst leise schlich er zur Hintertür. Er hatte Glück: Zwar war die Türe verschlossen, das Fenster daneben jedoch nicht. Nachdem der Oberst sich erneut ergebnislos umgesehen hatte, öffnete er es und kletterte leise in den dahinterliegenden dunklen Raum. Rasch schloss er das Fenster und schaute sich um, was dank der sternenklaren Nacht recht einfach war. Der Einrichtung nach zu urteilen stand er in einer derzeit ungenutzten Gesindekammer. Der Offizier hielt kurz den Atem an und lauschte an der Zimmertür. Doch als es nach einer geraumen Weile immer noch still blieb, entschloss er sich dazu, sie zu öffnen und aufs Ganze zu gehen. Die Gaststube, in der er sich nun befand, war leer. Rechts von ihm schälte sich die Treppe zum Obergeschoss aus dem Dunkel; dort befanden sich die Zimmer für die vornehmeren Gäste. Zu denen gewisslich auch seine Schwester zählte. Der Oberst hatte bereits den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als ihn ein Gedanke durchzuckte: Er konnte schlecht jedes einzelne Zimmer auf der Suche nach dem Quartier Selindes überprüfen, ohne mit zunehmender Dauer zu riskieren, entdeckt zu werden! Also schlich Ugdalf zur Rezeption, nahm das Gästebuch und konnte mittels des Sternenlichts und einiger Konzentration in Erfahrung bringen, in welchem Raum genau sie logierte. Rasch legte er das Buch wieder an seinen Platz und schlich die Treppe hoch.

Selinde hatte, wenig überraschend, Mühe, einzuschlafen. Unruhig wälzte sie sich im Bett hin und her, während ihre Gedanken, einem wilden Reigen gleich, um ihre Mutter, ihren Bruder und Elissa kreisten. Und Egtor, dem Diener des Namenlosen. Mitten in der Nacht erwachte sie, nicht zum ersten Male, schweißgebadet. Nachdem sie sich kurz sortiert hatte fiel ihr die von Kalina überreichte Teemischung ein. Dass sie nicht schon beim Zubettgehen daran gedacht hatte! Auch wenn es der Baroness nicht wirklich behagte, Tee kalt zu trinken, nutze sie die Gelegenheit und füllte einen Krug mit Wasser aus einer bereitgestellten Kanne. Dann gab sie die Kräuter hinzu und ließ den Tee eine Weile ziehen. Währenddessen begab sie sich, einem dringenden Bedürfnis folgend, zum Abort am Ende des Ganges.