Geschichten:Dummheit und Erkenntnis

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

"Du Narr, du törichter Narr!" Fredegard von Hauberach war schier außer sich; von ihrer sonst so scheinbar unerschütterlichen Selbstbeherrschung war in diesem Moment nichts mehr übrig, im Gegenteil, sie wirkte eher wie ein leibhaftiger Rachedämon, der kurz davon schien, seinem Opfer den Garaus zu machen.
"Wann fängst du endlich mal an, vernünftig zu planen und die Konsequenzen deines Handelns vorher abzuwägen? Ein erbärmliches Heer, das mit so gleichermaßen dummen wie kurzsichtigen Offizieren geschlagen ist! Mit Leuten wie dir könnte man nicht mal-"

"Mutter, bitte!", versuchte der so Gescholtene, Fredegards Sohn Ugdalf, so etwas wie einen Widerspruch zu formulieren, "Ich dachte-".

"Schweig! Und überlass` das Denken zukünftig lieber denen, die was davon verstehen. Wie dumm muss man denn sein, einen gedungenen Mörder in einen Boron-Tempel zu entsenden, um dort jemanden zu erdolchen? Auffälliger geht es ja kaum! Immerhin hat er das falsche Opfer erwischt, sodass uns niemand damit in Verbindung bringen kann. Das Weib befindet sich übrigens tatsächlich in der Obhut Borons, allerdings nicht im Tempel, sondern im Kloster des Vergessens. Informiere dich das nächste Mal besser über ein Ziel, bevor du es angreifst."

"Aber hast du Selinde nicht genau deshalb nach dem Aufenthaltsort des Bastards gefragt, damit er ein für allemal mundtot gemacht werden kann?"

"Natürlich, du Schwachkopf! Aber ganz bestimmt nicht, um ihn noch in der gleichen Nacht dermaßen offensichtlich umbringen zu lassen. Glaubst Du, dieser Zusammenhang fiele nicht zumindest Deiner Schwester auf? Auch wenn sie unsere Pläne derzeit gehörig durcheinanderbringt - dumm ist sie nicht. Und ich habe dich schon mehr als einmal davor gewarnt, unsere Feinde zu unterschätzen. Und bevor du fragst: Ich hätte dafür gesorgt, dass das kleine Gör über die nächsten Wochen mit einem nicht nachweisbaren Mittelchen langsam aber buchstäblich todsicher vergiftet worden wäre - kein Skandal, kein Argwohn und vor allem: kein Verdacht gegen uns!
Mit einer unnatürlich schnellen Bewegung hatte Fredegard ihren Sohn am Hals gepackt, gegen die Wand gedrückt und ein Stück weit vom Boden gehoben. "Ich warne dich zum letzten Mal, Sohn!", flüsterte sie diesem mit sanftmütiger Stimme und eiskaltem Lächeln ins Ohr, "solltest du noch ein Mal, nur ein einziges Mal, ein so dilettantisches Verhalten an den Tag legen und die Pläne unseres Herrn gefährden, so wird ein weiteres Versagen nicht mehr toleriert werden. Denn weder der Güldene noch ich verzeihen Unfähigkeit und Versagen. Und nun geh´. In der Kaserne wartet man sicher ungeduldig auf dich. Wir sehen uns dann heute Abend." Wie ein Lumpenbündel warf die Geweihte des Namenlosen Ugdalf, dem das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, fast schon achtlos zur Seite.
Nachdem er kurz zu Atem gekommen war, verließ er fast schon fluchtartig, ohne von seiner Mutter weiter beachtet zu werden, den geheimen Tempel ihres beider Herrn.


Trenner Perricum.svg



Am Nachmittag des Folgetages begab sich Selinde in die Kaserne, genauer gesagt zum Arbeitszimmer ihres Bruders Ugdalf, wo sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter verabredet hatten, um über das weitere Vorgehen Elissa und Vellberg betreffend zu sprechen. Eigentlich war sie etwas zu früh dran, doch wollte sie nicht länger mit dieser Unterhaltung warten; gerade Ugdalfs gestriger Auftritt ließ es der Baroness angeraten erscheinen, das Gespräch eher früher als später zu führen. Unterwegs schnappte sie noch einiges Gerede in der Stadt auf. Offenbar war eine junge Frau im hiesigen Boron-Tempel ermordet worden. Selinde schüttelte den Kopf. Manche Leute schreckten in dieser Stadt vor gar nichts mehr zurück. Schließlich erreichte die Adlige ihr Ziel und betrat - ohne sich zuvor bei ihm melden zu lassen - das Arbeitszimmer ihres Bruders.

"Oh, hallo Selinde! Du bist etwas zu früh. Mutter ist noch nicht hier. Aber setz´ dich doch. Ich denke, vor allem anderen schulde ich Dir erst mal eine Entschuldigung für mein gestriges Verhalten. Ich hätte mich dir gegenüber nicht so gehen lassen sollen."

"Hm, schon gut. Aber du solltest allmählich zumindest mal versuchen, mit unserer Halbschwester - und das ist sie ja trotz alledem - deinen Frieden zu machen. Deswegen musst Du ja nicht gleich Freundschaft mit ihr schließen."

Schlagartig schoss dem Obersten das Blut in den Kopf. "Nun, da haben wir offensichtlich unterschiedliche Ansichten zu", antwortete er mühsam beherrscht. "Belassen wir es doch einfach dabei, ja?"

"Wie du willst, Bruder", entgegnete Selinde mit einem missbilligenden Blick. "Ich wollte dir und Mutter auch nur mitteilen, dass ich Elissas Gemahl Sequim ins Vertrauen ziehen und ihn bitten werde, die Regentschaft über Vellberg zu übernehmen, bis seine Gattin wieder selbst dazu in der Lage ist. So können wir den Markgrafen hoffentlich noch eine Weile aus allem raushalten und vermeiden, dass Elissas Wahnsinn allgemein bekannt wird, was ihrer Reputation selbst bei einer vollständigen Genesung nachhaltig schaden dürfte."

"Nein! Nach allem, was ich auf mich-, ich meine, nach allem was Recht ist, willst du mich hier übergehen? Deinen eigenen Bruder? Zugunsten dieses Alxertis? Ist das dein ernst? Blick und Stimme Ugdalfs hatten schlagartig etwas Bedrohliches angenommen.

Selinde traf die Erkenntnis wie der Hieb einer Ochsenherde. Ugdalf also! Für einige Augenblicke - die ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkamen - hatte sich die Adlige ganz in dieses furchtbare Wissen verloren. Erst Ugdalf, der nun einen besorgten Eindruck machte, holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.

"Ist dir nicht gut, Schwester? Du bist ja plötzlich so weiß wie ein Laken."

"Was? Ja, äh, ich leide schon seit einigen Tagen unter einer hartnäckigen Erkältung und schlafe deswegen auch schlecht. Lass´ uns später, wenn es mir wieder besser geht, noch einmal über alles reden, ja? Bitte entschuldige mich auch bei Mutter. Ich melde mich wieder."
Mit leicht zittrigen Knien erhob sich Selinde und verließ zügigen Schrittes das Zimmer, immer noch kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.