Geschichten:Brandspuren - Die Kugel nehmen

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Nordufer des Danilossees, 19. Boron 1043 BF

Keine Sekunde ließ Praiodan von Steinfelde die flüchtende Ritterin aus den Augen. Das war sein Element! Vergessen die schmerzenden Glieder, vergessen die Unübersichtlichkeit und quälende Unsicherheit der letzten Monde. Hier gab es nur ein klares Ziel! Weder hintersinnige Winkelzüge und halbseidene Zungenschläge mit leeren Versprechungen auf glattem Parkett konnten ihn davon abbringen; hier galten einzig das Können und die Kraft von Ross und Reiter, um jede Bewegung und Wendung der Gegnerin vorauszuahnen und ihr den Weg abzuschneiden. Wie hatte er das vermisst!

Kurz vor der Brücke über den Natzbach hatte der Hartsteener Wegevogt mit seinen Leuten die Katterquell beinahe eingeholt. Leider hatte die falsche Schlange die nahenden Häscher bemerkt und im Galopp die Flucht ergriffen. Nach und nach waren die meisten Verfolger mit den schlechteren und müderen Mähren zurückgeblieben und mit ihnen das alles überdröhnende Donnern der Hufe. Schließlich konnte einzig Praiodans Pferd noch bei dem wahnsinnigen Tempo mithalten, das Rapidoras unbarmherzig bis aufs Blut angetriebenes Tier an den Tag legte, und sich Stück für Stück näher an sie heran schieben. Keine zwanzig Schritte vor ihm jagte sie nun auf ihrem Ross am sumpfigen Ufer des Danilossees entlang, wobei Schlamm und große Klumpen feuchter Erde in die Höhe spritzten. Immer wieder wandte sich Rapidora von Katterquell kurz um, wohl in der Hoffnung, den Steinfelder endlich abgehängt zu haben, doch vergebens.

Als die Ritterin dann im vollen Galopp über einen Graben setzte, geschah es: Ihr Pferd rutschte beim Wiederaufsetzen weg, wieherte schmerzerfüllt auf und verwandelte sich von einem Moment auf den anderen in einen vom Schwung getragenen, stürzenden und sich überschlagenden Fleischberg, der mit aller Wucht ins hohe Schilf krachte und dort zum Liegen kam.

Praiodan brachte sein Ross an der Unglücksstelle hart zum Stehen, stieg ab und zog sein Schwert. Rapidora war in hohem Bogen abgeworfen worden und versuchte benommen, sich auf die Knie hochzustemmen, als sie die Klinge an ihrem Hals spürte.

„Im Namen Graf Odilberts von Hartsteen, ergebt Euch, Rapidora von Katterquell!“, forderte Praiodan sie auf.

„Glückwunsch, Steinfelde! Ihr habt gewonnen“, keuchte sie, wobei sich ihr schmerzverzerrtes und vom Sturz verdrecktes Gesicht zu einer zähnebleckenden Grimasse verzog.

„Legt Eure Waffen ab. Ihr werdet Euch vor des Grafen Richterstuhl verantworten wegen der Verbrechen, die Ihr begangen habt, namentlich den Überfall auf das Kloster unserer lieben Frau Travia zu Hutt.“

„Ah. Ihr wisst also Bescheid. Na schön, ich gestehe“, mit zitternden Fingern fummelte die Ritterin ihren Gürtel auf und ließ ihn mitsamt Schwert und Dolch zu Boden fallen. „Aber... Ihr wollt doch bestimmt auch wissen, warum?“, bei diesen Worten hielt sie Praiodan ihre geöffnete Hand hin, „Darum.“

Der Steinfelder erkannte eine Art matt glänzende Kugel von vielleicht drei bis vier Fingern Durchmesser, deren polierte grüne Oberfläche von einer Vielzahl feiner weißer und grauer Muster durchzogen war, die fast wie Schriftzeichen wirkten.

„Nehmt sie“, forderte Rapidora ihn mit brüchiger Stimme auf, „Jetzt ist ohnehin alles egal. “ Für einen Moment zögerte Praiodan, doch dann griff er zu. Die Kugel war überraschend schwer in seiner Hand: „Was ist das?“

„Oh, ein letzter Ausweg in aussichtslosen Situationen“, erläuterte die Katterquell und dem Wegevogt war es, als umspielte auf einmal ein leises Lächeln ihre Mundwinkel, „Und mir scheint, diese Situation ist jetzt da: ZU ERZ UND STEIN!“

Im nächsten Augenblick spürte Praiodan überrascht eine ungeahnte bleierne Schwere in sich. Es hätte nur einer kleinen Handbewegung bedurft, um der Frau das Schwert in den Hals zu stechen. Allein, es wollte ihm nicht gelingen! Ganz zu schweigen davon, zu einem Streich auszuholen oder einen Schritt zu tun! Eine schreckliche Starre nahm von ihm unaufhaltsam Besitz und vor seine Augen schob sich ein grauer Schleier. Das Letzte, was Praiodan sah, war, wie sich Rapidora von Katterquell hässlich grinsend erhob und die Kugel wieder aus seiner Hand klaubte: „Ein kleiner Scherz, Steinfelde. Ich empfehle mich hiermit. Ihr habt sicher nichts dagegen, wenn ich Euer Pferd nehme? Immerhin glaube ich nicht, dass Ihr noch einmal eines braucht. Falls doch, bedient Euch einfach des meinigen.“