Geschichten:Binnen- und andere Ansichten

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Fast völlig in ihren Gedanken versunken wanderte Selinde ziellos durch die Reichsstadt. Mehr als einmal stieß sie dabei mit anderen Passanten zusammen, da sie ihren Blick mehr nach innen denn auf den Weg vor ihr richtete – auch wenn letzteres zumindest im übertragenen Sinne durchaus der Fall war.
Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte die Adlige nicht zuletzt deshalb so verstört, weil Fredegard ihre Beteiligung an Ugdalfs Mordplan in einem leichten Plauderton und mit einer Selbstverständlichkeit eingeräumt hatte, als ginge es lediglich um das Zurückstutzen eines Rosenstrauchs oder neue Backrezepte. Selinde fröstelte bei dem Gedanken zurück an diese furchtbare Unterhaltung.
Und dann noch dieses furchtbare Gefühl völliger Ohnmacht! Mochten die Taten von Bruder und Mutter auch noch so verdammens- und verabscheuungswürdig sein – die Baroness sah´ keine Möglichkeit, auf legalem Wege dagegen vorzugehen. Die diesbezügliche Argumentation ihrer Mutter war leider absolut zutreffend. Wenn jemand bei einer solchen Vorgehensweise verlöre, dann nur sie selbst, musste Selinde sich eingestehen. Beträfe es nur sie selbst, so wäre sie diesen Weg dennoch gegangen. Aber ihren Kindern konnte sie diese Schmach unmöglich zumuten.
Und erzählen konnte sie von diesem wahrgewordenen Alptraum auch niemandem. Keiner ihrer Freunde dürfte eine solch´ augenscheinlich verrückte Geschichte – noch dazu ohne jeden Beweis – glauben, so wie sie selbst es unter umgekehrten Vorzeichen wohl auch nicht täte, musste sich die Adlige zähneknirschend eingestehen.
Nachdem sie, ganz versunken in ihren düsteren Gedanken, erneut unabsichtlich, diesmal in eine Magd, hineingelaufen und dafür mit einer unflätigen Bemerkung bedacht worden war, entschloss sich Selinde dazu, in einer nahegelegenen Teestube einzukehren und dort zumindest zu versuchen, den Kopf wieder halbwegs frei zu bekommen. Der dargereichte grüne Tee schmeckte nicht nur vorzüglich, sondern half der rat- und hilflosen Adligen tatsächlich, sich auf ihre weiteren Schritte zu konzentrieren. Widerstrebend stellte sie die Entlarvung ihrer skrupellosen Verwandtschaft zugunsten einer weitaus drängenderen Frage zurück: Was war mit Elissa? Die Suche nach dem Grund für ihren Wahnsinn und wie man diesen – wenn überhaupt – heilen könnte, war ob der jüngsten schockierenden Erkenntnisse für eine Weile in den Hintergrund gerückt, wie sich Selinde leicht verschämt eingestehen musste.

Kurzerhand stattete sie ihrer Halbschwester im Kloster des Vergessens einen Besuch ab, der die Baroness in ihrer Entschlossenheit bestärken sollte. Zwar hatte sich der Geisteszustand der Herrin zu Vellberg nicht verbessert, die betreuenden Boronis waren sich aber mittlerweile sicher, dass der Irrsinn nicht einfach so über die Baronin gekommen war, sondern einen, wie auch immer gearteten, konkreten Auslöser gehabt haben musste. Ganz so, wie es Kalina Niodas schon bei der ersten Begegnung vermutet hatte. Selinde dachte kurz nach: Ihre Halbschwester hatte sich seit der Umwölkung ihres Geistes durchgehend in Vellberg aufgehalten. Besondere Ereignisse, die sie dergestalt hätten mitnehmen können, hatte es laut Norholt nicht gegeben. Also musste die Ursache auf oder bei Burg Mallvenstein, dem Wohnsitz Elissas, zu finden sein – hoffte die Baroness zumindest.

Erfüllt von neuer Entschlusskraft, verabschiedete sich Selinde von ihrer apathischen Halbschwester und begab sich zügigen Schrittes in ihr Hotelzimmer zurück, um einen Brief zu schreiben.
In diesem bat sie Norholt, den informellen Vogt der Baronie, darum, möglichst akribisch zu prüfen, ob, wann und wo sich Elissa seit Ende Rondra außerhalb der Burg und deren unmittelbarer Umgebung aufgehalten hatte. Auch solle er noch einmal alle Bewohner der Feste genauestens nach irgendwelchen Auffälligkeiten befragen; vielleicht fiele dem einen oder der anderen mit etwas zeitlichem Abstand doch noch etwas Wichtiges ein. Selinde gab sich hierbei aber keinen Illusionen hin: Sollte, was wohl die wahrscheinlichere Variante war, auch dieser letzte Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen, keine neuen Ergebnisse zeitigen, so dürfte Elissas Schicksal besiegelt sein. Beim Weiterspinnen dieses Gedankens hätte die Baroness vor Zorn beinahe das gerade fertiggestellte Schreiben zerknüllt: Sollte der Irrsinn ihrer Halbschwester nämlich zumindest auf absehbare Zeit als unumkehrbar angesehen werden, so wäre es nicht länger zu vermeiden, dass auch der Markgraf davon erführe, Elissa entlehnte und höchstwahrscheinlich den Nächsten in der Erbfolge als Baron einsetzte: Ugdalf! So hätte er am Ende zwar nicht unbedingt seine Rache, zumindest aber sein Lehen zurückbekommen. Trotz aller Wut kam Selinde jedoch nicht umhin, sich einzugestehen, dass dies nach Recht und Gesetz an sich auch richtig wäre. Ugdalf war älter als seine verhasste Halbschwester und vor allem war er im Gegensatz zu ihr von legitimer Geburt. Ob ihrer aller Vater Wallbrord nicht hätte absehen können, ja sogar müssen, was er mit seinem Testament anrichtete, in dem er ohne erkennbaren Grund seinen Sohn dermaßen demütigte? Und das auch noch gewissermaßen vor aller Augen? Ja, sie konnte ihres Bruders Unmut deswegen völlig verstehen, teilte ihn sogar. Aber in seinem offensichtlich mittlerweile maßlosen Hass überschritt er nicht nur rechtliche und moralische Grenzen, er traf damit letztlich auch die Falsche: Denn Elissa, soviel stand fest, war von ihrem Aufstieg selbst völlig überrascht worden, sodass man sie kaum als Erbschleicherin bezeichnen konnte. Nein, ihr gemeinsamer Vater, dieser sonst so weitblickende Stratege, war hier der eigentlich Schuldige. Aber Wallbrord war tot, Elissa lebte. Und Rache übte man nun einmal bevorzugt an den Lebenden.
Nur mit Mühe gelang es Selinde, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und nicht vollends von dem sie umgebenden Hass und Rachedurst vereinnahmt zu werden, die keines ihrer Probleme lösten, sondern allenfalls neue schufen.

Den gesiegelten Brief ließ sie noch am gleichen Tag von einem vertrauenswürdigen Kurier gegen ein großzügiges Handgeld eilends zu Norholt nach Vellberg bringen. Am liebsten wäre die Adlige selbst geritten, doch hielt sie es für unklug, ihre in der Stadt versammelte Familie im Guten wie im Schlechten auch nur für wenige Tage aus den Augen zu lassen.


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„Herr Norholt, gerade ist ein Bote mit einer dringenden Nachricht für euch eingetroffen. Soll ich ihn reinschicken?“

Was? Ein Bote? Für mich? Äh, ja, er soll zu mir kommen, Ulfwin.“

Ein vierschrötiger Kerl betrat daraufhin das Arbeitszimmer. „Bist du Norholt?“

„Ja, aber das heißt eigentlich Herr-“

„Gut, dann ist der Schrieb hier für dich.“

„Also, das ist doch-“

„Phex befohlen, ich muss weiter.“

Den heimlichen Lauscher bemerkten weder der Kurier noch Norholts nächster Besucher.

Der Vogt brauchte einen Moment, um sich von dem impertinenten Auftreten dieses Kerls zu erholen und dem Grund seines Erscheinens zuzuwenden. Norholt brach das Siegel und überflog rasch den Inhalt des Briefes, den er mit einem bedauernden Kopfschütteln quittierte.

„Klopf, Klopf!“

„Häh?“

„Das heißt ‚Ja bitte‘! Und, wie soll ich anklopfen, wenn die Tür sperrangelweit offensteht? Deinem Besucher gerade fehlten offenbar Zeit und Muße, sie nach seinem Abgang zu schließen.“

„Und der nötige Benimm, Miranda.“

„Der auch. Aber der war hier schon immer ein eher seltener Gast.“

„Gäste, was für Gäste?“

„Na, du scheinst mir heute selbst für Deine Verhältnisse ziemlich durcheinander zu sein, lieber Vetter. Schlechte Nachrichten?“

„Schließ´ die Tür und setz´ Dich bitte.“

Miranda tat, wie ihr geheißen. „Wenn Du so vorsichtig bist, dann geht es in dem Schreiben wohl um ihre Hochgeboren, richtig?“

„Ja. Aber nochmal: Alles was ich dir dazu sage, bleibt unter uns. Das ist absolut-“

„Klar, mein Lieber. Du weist mich ja auch erst zum gefühlt hundertsten Male darauf hin. Als ob das den Tratsch hier eindämmen könnte. Nun mach es nicht so spannend, Norholt. Was gibt es denn Neues?“

„Das Schreiben ist von Frau Selinde, der Halbschwester unserer-“

„Danke, ich weiß selbst, wer das ist.“

„Kann ich jetzt – möglichst ohne weitere Unterbrechungen - fortfahren? Danke. In Kurzform: Ihre Hochgeboren ist wohlbehalten im Kloster des Vergessens zu Perricum angekommen, doch die Diener des göttlichen Raben haben allenfalls geringe Hoffnung, dass unsere Baronin irgendwann ihren Verstand zurückerlangen wird, solange die Geweihten nicht mehr über die Ursache ihrer, äh, Erkrankung in Erfahrung bringen können. Frau Selinde bittet mich daher, noch einmal zurückgehend bis Ende Rondra akribisch zu recherchieren, wann und wo sich ihre Hochgeboren außerhalb der Burg aufgehalten hat oder ob jemandem hier etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist, dass die Wurzel allen Übels sein könnte.“
Norholt schwieg eine Weile, bevor er mit recht verdrießlicher Miene fortfuhr: „Gerne werde ich das alles noch einmal durchgehen und erfragen, aber schon beim ersten Mal kam da leider nichts Brauchbares bei rum. Und warum es diesmal anders sein sollte-“, der Vogt ließ den Satz unvollendet im Raume stehen.

„Ich erinnere mich. Wir haben damals ja alle darüber sinniert, was wohl unsere Herrin dermaßen um den Verstand gebracht haben könnte. Und, leider, teile ich Deine Skepsis bezüglich neuer Erkenntnisse. Aber dennoch sollten wir – genauer gesagt du – die Befragungen gleich morgen mit aller Sorgfalt durchführen. Mir kam auch schon der Gedanke, dass vielleicht Gift im Spiel war, aber was für ein Gift hätte das sein sollen?“

Mit deutlich missbilligendem Blick ergänzte Norholt: „Einmal das und zum anderen wüsste ich niemanden hier, der ein Motiv und das nötige Wissen hätte.“

„Stimmt. Ach ja, Egtor hat das Essen fertig. Vielleicht sollten wir uns erstmal eine Mahlzeit gönnen und dann mit den Befragungen beginnen.“

„Gute Idee, Miranda. Wir sollten das nicht auf die lange Bank schieben. Lass´ uns am besten direkt mit unserem Meisterkoch beginnen. Gehen wir.“

Das Stühlerücken verriet dem Lauscher, dass er sofort verschwinden musste – nicht nur von der Tür sondern auch aus der Baronie. Auch wenn er durch das Holz nicht alles verstehen konnte: Eine erneute Befragung, eine mögliche Vergiftung der Baronin und er, Egtor, als zuerst zu Befragender ließen es dem eher schlichten Gemüt angeraten erscheinen, schleunigst zu verschwinden – am besten nach Perricum. In der großen Stadt würde ihn niemand finden und er könnte leicht in irgendeinem Gasthaus Arbeit bekommen.